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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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hatte sie sich fest vorgenommen, sich nicht länger Sorgen um ungelegte Eier zu machen. Sie wollte viel lieber in der Vorstellung schwelgen, wie die seidenberüschten Gänse im Tíraphal ihr nachgafften, wenn sie mit Ken am Arm über die Terrassen flanierte. Natürlich blieben das Tagträumereien. Ken würde den Tíraphal nie zu Gesicht bekommen. Aber dennoch. Dieser Kuss zwischen den papiernen Ketten aus B’s und C’s veränderte alles. Die Farben leuchteten bunter als zuvor, die Luft duftete und Schmetterlinge wirbelten in ihrem Bauch. Das süße Gefühl von Besitzerstolz breitete sich in ihr aus. Er hatte sie geküsst, er interessierte sich für sie, er war noch aufgeregter als sie selbst. Wenn das überhaupt möglich war. Es fühlte sich gut an und lenkte sie von den düsteren Gedanken an Prinz Newan und seine Hofschranzen ab. Der Buchstabensammler würde Rat wissen. Das tat er immer.
    Der Garten war eigentlich ein Hain mächtiger Trauerweiden. Heckenkirschen wucherten zwischen den Stämmen, Lorbeersträucher und weiß blühender Holunder. Die Weidenruten hingen tief über die Dachbrüstung hinab und boten Efeu und Trichterwinde ein Gerüst zum Ranken. Wie der alte Mann auf der dünnen Schicht Erde einen solchen Dschungel zum Gedeihen brachte, blieb eins seiner zahlreichen Geheimnisse. Aber Naturgesetze schienen in diesem Haus ohnehin nicht zu gelten.
    »Wer ist übrigens dieser Buchstabensammler?«, fragte Ken.
    »Wie ich schon sagte, er ist ein mächtiger Zauberer.« Sie bückte sich unter einem regenfeuchten Strauch hindurch, an dem schwere fahlgelbe Blüten schaukelten.
    »Ah.«
    »Niemand weiß, was er ist. Aber er kennt die Antworten auf alle Fragen. Und er kann Welten formen.«
    »Welten formen? Wow.« Ken pflückte eine Blüte und drehte sie mit nachdenklichem Gesichtsausdruck zwischen den Fingern.
    Sie erwartete halb, dass er sie ihr schenken würde, und fühlte Enttäuschung, als er sie fallen ließ.
    »Er kann mit Willenskraft Häuser versetzen. Oder Berge. Oder Schluchten in die Erde reißen.« Okay, so genau wusste sie es nicht, aber sie nahm schon an, dass er es konnte. »Er befiehlt dem Gewebe, sich zu verändern, und es verändert sich. Was denkst du, warum seine Festung in der Luft schwebt?«
    »Kann Santino das auch?«
    »Keine Ahnung.« Darüber hatte sie nie nachgedacht. Santino war ein furchterregender Krieger, der viele magische Tricks beherrschte, aber Gebäude versetzen? »Ich glaube nicht.«
    Gemeinsam traten sie auf die Lichtung hinaus. Hinter Büscheln aus Rohrkolben und blühendem Ried schimmerte ein Weiher.
    »Wow«, sagte er.
    »Gefällt es dir?«
    Mit beiden Händen strich er über die Grasrispen. Winzige Funken stiegen unter seiner Berührung auf und trieben davon. Die harten Linien um seinen Mund lösten sich zu purer Begeisterung auf. »Hey, hast du das gesehen?«
    Seine Euphorie steckte sie an. Und ganz ehrlich, es gefiel ihr, ihn herumzuführen und ihm all die Wunder zu zeigen. Bei Santino blieb sie stets die Schülerin, so tief ihre Freundschaft auch reichte. Wobei sie die Sache mit der Freundschaft ohnehin noch mal überdenken musste, nachdem er ihr jetzt so in den Rücken fiel. Mit Ken dagegen fühlte sie sich wie der Gottkaiser von Amn. Die Bewunderung in seinem Blick streichelte ihre Seele. »Dann warte ab, bis du die blauen siehst.«
    Bei jedem Schritt wirbelte sie neue Wolken des Leuchtstaubs auf. Dichter am Wasser gedieh scharlachfarbenes Gras, und sie breitete beide Arme aus und drehte sich im Kreis und streifte mit allen zehn Fingern durch die winzigen Dolden. Eine bläulich schimmernde Woge überzog ihre Haut mit Flitter. Kens Haar glitzerte, seine Wangen glitzerten, seine Wimpern glitzerten, wie mit Tautropfen behangen. Die Fassungslosigkeit in seinem Blick reizte sie zum Lachen. Sie streckte ihre Hand aus und fuhr ihm durch die Locken. Eine Flut funkelnder Grassamen rieselte ihm auf die Schultern.
    Er berührte ihr Handgelenk und fiel in ihr Kichern ein. Sie ließ sich fallen und zog ihn mit sich ins Gras.
    Er küsste sie, rollte herum und sank neben ihr auf den Boden. Sie genoss seine Finger in ihren Haaren. Sie lauschte seinem Atem und spürte seine Wärme. Und Newan und der Hof rückten in weite Ferne.

    Lange lagen sie so. Die Luft roch nach Frühling und ließ die vergangenen Tage wie einen allmählich verblassenden Albtraum erscheinen. Ken beobachtete die Wolken, weiße und rosafarbene Sommergespinste. Die Narbe war von hier aus nicht zu sehen. Fast konnte

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