Purpurschatten
empfahl.
Brodka machte große Schritte auf dem sandigen Weg, um Pfützen und Morast auszuweichen. Am Brunnen, in dem Schiffchen braunen Laubes trieben, wandte er sich nach links. Nach wenigen Schritten gelangte er zu einem frischen Grab, das mit Blumengebinden und Kränzen überhäuft war. Brodka reckte den Kopf aus dem hochgestellten Kragen, um nach einem bescheideneren Grab in der Nähe Ausschau zu halten, als er das schlichte Holzkreuz inmitten der durchnäßten Blumen sah. Auf dem Querbalken stand der Name ›Claire Brodka‹.
Er hätte nie geglaubt, daß es so weit kommen würde; doch nun, da er den Namen seiner Mutter las, schossen ihm Tränen in die Augen. Von tiefer Trauer übermannt, weinte er so hemmungslos wie seit seinen Kindertagen nicht mehr. Die Blumen vor seinen Augen zerrannen wie die Farben eines wirren Gemäldes, und er ertappte sich dabei, daß er heftig, beinahe unwillig den Kopf schüttelte. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, starrte er mit gefalteten Händen auf das Grab, so tief in Trauer und Erinnerungen versunken, daß er nicht bemerkte, wie von der Seite eine Gestalt zu ihm trat und in der gleichen Haltung wie er neben ihm stehenblieb.
Selbst als der Mann zu reden begann, war Brodka so abwesend, daß er kein Wort mitbekam. Erst als der andere so nahe an ihn herantrat, daß dessen Oberarm ihn berührte, wandte Brodka dem Mann seinen Blick zu. Der trug den schwarzen Umhang eines Sargträgers und eine zylinderartige, runde Kappe auf dem Kopf.
Er räusperte sich und begann von neuem: »Ein merkwürdiger Tod, sehr merkwürdig, hm.«
Erst jetzt betrachtete Brodka den Mann neben sich genauer. Sein rundes, glattrasiertes, rötliches Gesicht wirkte beinahe jugendlich im Vergleich zu seiner ältlichen Fantasieuniform. Über seiner rechten Braue erkannte Brodka ein großes dunkles Muttermal. Die hellen Augen blickten listig, und der gedrungene Hals bildete ein feistes Doppelkinn.
Da Brodka noch immer nicht reagierte, erkundigte sich der Fremde: »Sind Sie ein Angehöriger, wenn ich fragen darf?« Sein Tonfall klang irgendwie hinterhältig.
Brodka nickte und schwieg.
Der Mann im schwarzen Umhang nickte ebenfalls, hüstelte hinter vorgehaltener Hand und sagte nach einer Pause: »Ich meine, es geht mich ja nichts an, aber …«
»Dann verschwinden Sie, und lassen Sie mich in Ruhe!« unterbrach Brodka ihn barsch und machte eine Handbewegung, als wollte er ihn verscheuchen wie einen lästigen Köter.
Zögernd entfernte sich der Fremde, trottete mit gesenktem Kopf in Richtung des niedrigen Gebäudes. Unweit des Brunnens holte Brodka ihn ein. »Warten Sie!« rief er. »Einen Augenblick!«
Nun zeigte der schwarze Mann sich seinerseits unwillig. Er ging weiter, ohne Brodka auch nur einen Blick zu gönnen.
»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte Brodka und wischte sich mit der flachen Hand über die Augen. »Ich war in Gedanken. Sie sagten etwas von einem ›merkwürdigen Tod‹. Was haben Sie damit gemeint?«
Der Fremde blieb abrupt stehen. Er legte den Kopf zur Seite und machte ein gequältes Gesicht. »Eigentlich geht es mich ja wirklich nichts an. Sie haben völlig recht, mein Herr, aber …«
»Aber?« Brodka ließ den anderen nicht aus den Augen.
»Nun ja, es ist so. Wenn man einen Sarg in die Grube läßt … verzeihen Sie bitte, daß ich mich so profan ausdrücke … bekommt man mit den Jahren ein Gefühl dafür …«
»Ein Gefühl wofür?«
»Nun ja … man bekommt ein Gefühl dafür, ob der, den man ins Grab läßt … wie soll ich sagen … wohlbeleibt war oder hager, ein Schwergewicht oder ein Leichtgewicht. Aber in diesem Fall war es weder das eine noch das andere.« Er zog die Nase hoch.
»Was meinen Sie damit?«
»Wie ich schon sagte. Es war … merkwürdig. Ich hatte gar kein Gefühl …«
Viel hätte nicht gefehlt, und Brodka wäre dem anderen an die Gurgel gefahren; dann aber besann er sich eines Besseren und sagte nur abfällig: »Sie sind ja verrückt, Mann! Was faseln Sie denn da?«
Der Fremde blickte Brodka nachdenklich an. »Ich bin mir ziemlich sicher, mein Herr, daß der Sarg leer war.«
Brodka wich einen Schritt zurück. Er fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß, holte tief Luft und rief: »Wie können Sie so einen Unsinn behaupten? Wie kommen Sie darauf?«
Der Fremde hob die Schultern. »Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich hätte es für mich behalten sollen.« Dabei machte er eine ungelenke Bewegung, als wollte er sich vor Brodka
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