Quarantäne
scheren, ob bei einem Eingriff meine Persönlichkeit Schaden nehmen würde. Die Evolution hat das menschliche Gedächtnis bekanntlich nicht zu dem Zweck entwickelt, seine Inhalte so rasch und einfach wie möglich wieder loszuwerden. Bestimmte Erinnerungen ganz gezielt zu löschen, ohne dem gesamten Gedächtnis zu schaden, erforderte einigen Aufwand; dazu mußte man das jeweilige Gehirn sehr, sehr gründlich studiert haben. Billig und gründlich würde nur ein gnadenloser Kahlschlag sein.
Tot oder ohne Gedächtnis oder unversehrt und frei. Drei Möglichkeiten in der Reihenfolge ihrer Wahrscheinlichkeit. Und wie kann ich meine Chancen verbessern? Wie kann ich ihnen einen Grund liefern, mich am Leben zu lassen, mich nicht an Leib und Seele zu beschädigen, wenn ich nicht weiß, wer sie sind und was sie wollen? Und wie kann ich das herausfinden, wenn ich keine Möglichkeiten habe, auf irgendeine Weise an Informationen heranzukommen?
Ich habe noch immer die Fotos gespeichert, die Culex gemacht hat. Ich gehe sie noch einmal durch, Stück für Stück, in der Hoffnung, daß ich etwas Wichtiges übersehen habe. Alle Bildschirme in den Labors und auf den Schreibtischen, die mein Spion aufnehmen konnte, sind gespickt mit Informationen: Aber was soll einer wie ich mit DNA-Sequenzen, Proteinmolekülen und neuronalen Schaltkreisen anfangen? Ich sehe sie, ich kann wiedergeben, was ich sehe – in der Art eines Schulanfängers, der die einzelnen Buchstaben auch des schwierigsten Satzes erkennen kann, ohne im mindesten zu verstehen, was er bedeutet. Ganz zu schweigen davon, daß ich mir vorstellen könnte, in welchen Zusammenhang diese Daten und Grafiken gehören.
Man bringt mir wieder Essen. Die Wachen lösen sich ab. Stundenlang brüte ich über den gespeicherten Daten und hoffe auf die zündende Idee, die sich aus diesem Wust von Widersprüchen ergeben muß. Von Flucht kann nach wie vor keine Rede sein. Den Bewacher anzugreifen wäre Selbstmord, sich aus dem Fenster zu stürzen und auf der Straße aufzuschlagen kaum weniger – einmal davon abgesehen, daß ich auf halbem Wege zum Fenster schon vom Laserstrahl durchbohrt wäre.
Meine Uhr läuft ab, und E3 drängt mich unablässig, Distanz zu wahren. Ruhig bleiben soll ich und mich erst einmal nach den nötigen Informationen umsehen… als ob es nicht wüßte, daß das unmöglich ist. Ich soll mich auf die verbliebenen Überlebensstrategien konzentrieren… dabei bestätigt es mir, daß es keine gibt. Was wird es tun, wenn nichts von dem mehr funktionieren kann, wozu es gemacht ist? Wenn alle Fähigkeiten, die es vermittelt, bedeutungslos geworden sind? Abschalten? Sich mit den besten Wünschen für die Zukunft verabschieden? Mir allein die Entscheidung überlassen, wo es nichts mehr zu entscheiden gibt?
Gegen Abend taucht jener Mann auf, der mich gestern zum Verhör brachte. Er wirft ein Paar Handschellen auf das Bett.
»Legen Sie das an. Arme auf dem Rücken.«
Was jetzt? Ein weiteres Verhör? Ich stehe auf, nehme die Handschellen. Mein Bewacher richtet den Laser auf meine Stirn und stellt ihn auf Automatik.
»Wo bringen Sie mich hin?«
Niemand antwortet. Ich zögere, dann lege ich die Handschellen an. Der Mann von gestern kommt näher und holt eine Spritze hervor. Die Szene, die mir so vertraut ist.
O ja. Dieselbe vertraute Routine. Was soll daran Beängstigendes sein! Gute Miene zum bösen Spiel. Die Ampulle hat dieselbe hellblaue Farbe wie beim ersten Mal; seine Finger verdecken die Beschriftung.
»Können Sie mir nicht sagen, was Sie mit mir vorhaben?«
Er beachtet mich nicht, sondern zieht die Hülle von der Kanüle. Er sieht mir ins Gesicht, der Mann, doch seine Augen könnten ebensogut tot sein. Die Module lassen nicht zu, daß er irgendeine Regung preisgibt.
»Ich möchte…«
Mit zwei Fingern spannt er die Haut an meinem Nacken. Ich sage ganz ruhig: »Ich möchte Ihre Vorgesetzte noch einmal sprechen. Es gibt etwas, was ich ihr verschwiegen habe, etwas sehr Wichtiges…«
Keine Antwort. Die Pistole ist noch immer auf Automatik eingestellt. Schon bei dem Gedanken, mich zu wehren, wäre ich tot. Die Nadel dringt durch meine Haut. Es gibt nichts, was ich tun kann. Außer warten.
Ich öffne die Augen. Ich muß blinzeln, so hell ist die Decke über mir. Ich bin noch immer in dieser Wohnung. Immerhin, die Einsatzmodule sind jetzt inaktiviert. Es ist sechzehn Uhr drei, siebter Januar. Der Stuhl meines Bewachers steht noch immer da, aber er ist leer.
Eine
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