Quarantäne
die Liste der Fakten, die es nicht erklärt, immer länger wird. Caseys Geschichte. Die merkwürdige Architektur des Kellergeschosses. Laura, die in ihrem maßgeschneiderten Gefängnis herumspaziert, trotz der verschlossenen Tür. Das bringt mich auf eine Theorie, die auch das erklärt – und sich einfach unglaublich anhört:
Laura ist wirklich aus dem Hilgemann entkommen. Ohne fremde Hilfe. Zweimal. Das ist der Grund ihrer Entführung: Jemand hat davon gehört, jemand, der glaubt, ihr Talent nutzen zu können. Daher der Raum mit den doppelten Wänden, eine kleine Übungsaufgabe für die Entfesselungskünstlerin. Als ich sie fand, war sie schon halb draußen.
Wie hatten die Wachen mich entdeckt? Offensichtlich hatte ich einen Alarm ausgelöst – aber dieses Kellergeschoß wurde doch gar nicht von der Sicherheitszentrale aus überwacht, wenn meine Chamäleons nicht total verrückt gespielt hatten. Wenn jedoch Lauras besonderes Talent Gegenstand des Interesses war, dann kümmerte sich nicht nur das Wachpersonal um sie, dann gab es jede Menge Monitore und Detektoren, die sie aus ganz anderen Gründen nicht aus dem Auge ließen.
Warum beschäftigte man sich bei BDI mit Verdrahtungsschemata des Gehirns? Das hatte mit dem Aufspüren embryonal bedingter Hirnschäden wenig zu tun. Sie wollten etwas anderes: Sie wollten herausfinden, warum Laura besser war als ein halbes Dutzend Houdinis zusammen. Sie wollten daraus, wenn irgend möglich, ein Modul machen. Warum hatten sie sie als Leiche herausgeschmuggelt, anstatt ihr ein Marionetten-Modul zu verpassen? Weil sie ihr Gehirn nicht antasten wollten, aus Sorge, sie könnten das einzige, was Laura für sie interessant machte, zerstören.
Das paßte nun schon viel besser zusammen.
Doch leider will es mir partout nicht in meinen Kopf.
Was sollte das für ein hypothetisches Talent sein, das Laura ermöglichte, aus verschlossenen Räumen zu entkommen – ohne jedes Werkzeug? Sich vorzustellen, daß jemand rein intuitiv Schlösser und Kameras manipulieren kann, ist schon schwierig genug – aber daß er das mit bloßen Händen tun könnte… absurd. Nach zweihundert Jahren der Forschung stand fest, daß es so etwas wie Telekinese nicht gab. Die winzigen elektromagnetischen Felder des menschlichen Körpers sind millionenmal schwächer, als nötig wäre, um ein elektronisches Schloß in Bewegung zu setzen. Daran konnte kein noch so segensreicher Hirnschaden etwas ändern. Das war so hoffnungslos, als wollte man mit einem überirdisch genialen Programm einen Computer dazu bringen, sich in die Luft zu erheben.
Und wie war sie dann rausgekommen?
Ich denke noch immer darüber nach, als die Tür sich öffnet. Ein junger Mann wirft ein Bündel Kleider vor mich hin, dann zieht er eine Pistole und eine Fernbedienung, die er auf meine Handschellen richtet. Rasch aktiviere ich Transmitter, in der Hoffnung, das Signal aufzufangen. Die Fesseln lösen sich, doch von einem Infrarotpuls keine Spur. Es muß eine Frequenz sein, die außerhalb des Bereichs meiner modifizierten Hautzellen liegt.
Der Mann ist in der Tür stehengeblieben und hält die Pistole auf mich gerichtet. »Ziehen Sie sich an.« Ich erkenne die Stimme, es ist der Mann von gestern nacht. Sein Gesicht bleibt völlig sachlich, nicht der geringste Unterton von Überlegenheit oder Aggressivität ist zu spüren – zweifellos das Werk einiger Module, die für den richtigen Schliff in allen Lebenslagen sorgen.
Die Kleider sind nagelneu und passen wie angegossen. E3 läßt nicht zu, daß ich über den Verlust meiner ganzen – in allerlei Geheimtaschen versteckten – Ausrüstung trauere oder auch nur Bedauern empfinde; das hindert gewisse andere Funktionseinheiten meines Gehirns nicht daran, ganz überflüssige Warnungen vor meinen Augen aufblitzen zu lassen, als ich angekleidet bin: Achtung! Ausrüstung unvollständig!
»Legen Sie die Handschellen an. Ein Paar genügt. Die Arme auf den Rücken!«
Als das erledigt ist, verbindet er mir die Augen. Dann führt er mich hinaus. Er geht neben mir, hält die Kette der Handschellen mit einer Hand, in der anderen die Pistole. Ich spüre, daß der Laserstrahl auf meine Brust gerichtet ist.
Es ist kaum etwas zu hören auf unserem Weg durch das Gebäude: Gesprächsfetzen in Kantonesisch und Englisch, Schritte auf dem Teppichboden, die sich wieder verlieren, das Summen von Maschinen, entfernt, von irgendwoher. Ein schwacher Geruch nach organischen Lösungsmitteln steigt mir in die Nase.
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