Quarantäne
Kilometer nördlich von hier, das läßt sich zu Fuß erledigen.
Ich kann nicht anders, fast zwanghaft muß ich mir ausmalen, was ich jetzt wohl tun würde, wenn sich meine Prioritäten nicht grundlegend geändert hätten – und das neue Modul tut nichts, um solche Spekulationen zu unterdrücken. Wilde Phantasien spuken in meinem Kopf, drängen sich mir förmlich auf. Konnte ich das Modul vielleicht neutralisieren? In einer wahrhaft heroischen Anstrengung dagegen ankämpfen – so lange, bis ich einen Neurotechniker gefunden hatte, der mich davon befreien konnte? Ich zweifle nicht daran, daß es das wäre, was ich >normalerweise< tun würde – und gleichzeitig bin ich sicher, daß ich es in diesem Augenblick nicht will. Dieser Widerspruch ist irritierend, aber doch nicht neu. Was ich früher einmal wollte, äußert sich ganz in der Art jener kurzen, aber nicht ehrlich gemeinten Anfälle von schlechtem Gewissen.
Die Schwüle ist erdrückend, die Menge in den Straßen an diesem Samstagabend nicht weniger. Mühsam bahne ich mir einen Weg und komme mir vor wie irgendein mechanisches Spielzeug, immer bereit zum Ausweichen, aber unerbittlich in seinem Vorwärtsdrang. Ich finde mich mitten in einer Gruppe junger Leute, die alle gleich aussehen, eine Gang vermutlich. Fünfzig oder sechzig Teenager beiderlei Geschlechts, zurechtgemacht und mit hochnäsigen Mienen, bemüht, dem neuesten Videostar möglichst ähnlich zu sehen; alle mit denselben im Dunkeln leuchtenden Tätowierungen, alle in einer Art Tanz begriffen – ein perfekt synchronisiertes Gestikulieren wie Schattenboxen. Sie wollen keinen Ärger machen, sagt Déjà-vu, beachtet zu werden, das ist ihr Wunsch.
Die Sache im Hotel ist rasch erledigt, was soll ich mich lange dort aufhalten? Ich packe, lasse mir die Rechnung geben. Auf dem Rückweg mache ich einen Umweg, der nicht weit am Flughafen vorbeiführt. So ganz weiß ich nicht, warum ich das tue. Ein bißchen Neugier ist im Spiel, ob ich wohl verfolgt oder wenigstens überwacht werde. Neugier, ob BDI mir vielleicht doch nicht traut. Ich überlege allen Ernstes, ob ich nicht in die Abflughalle gehen und mir ein Ticket kaufen soll – nur um zu sehen, ob jemand mich aufhalten wird. Aber dann kommt es mir doch zu kindisch vor, und ich gehe vorbei.
Noch immer warte ich darauf, daß ich vielleicht Stimmen höre oder halluziniere, obwohl ich doch weiß, daß das Stadium so primitiver Methoden lange hinter uns liegt. Ein Loyalitätsmodul läßt keine Propagandaparolen im Schädel widerhallen. Es bombardiert dich nicht mit Bildern, die das Objekt der Verehrung zeigen, während es gleichzeitig das Lustzentrum stimuliert. Es bestraft nicht mit Schmerz und Übelkeit, wenn die Gedanken vom rechten, genehmen Weg abweichen. Religiöse Inbrunst beim bloßen Gedanken an das Dienen oder krankhafter Übereifer sind nicht seine Sache – es soll das Denken nicht trüben. Auch nicht durch Einflüsterungen, durch scheinbar unanfechtbare Argumente, die die Unterwerfung als einzig richtigen Schluß zulassen. Keine Gehirnwäsche, keine Konditionierung, keine Überredung. Das Loyalitätsmodul ist nicht Werkzeug der Veränderung, es ist die Veränderung selbst. Causa finita. Es ist nicht der Grund zu glauben, es ist der Glaube selbst. Fleischgewordener Glaube oder, wenn man es recht betrachtet, ein Stück Fleisch, aus dem man Glauben gemacht hat.
Das ist noch nicht alles. Die dazu benutzten Neurone werden sozusagen fest verdrahtet – ein Vorgang, der sich nicht mehr rückgängig machen läßt. Diesem Glauben wird man nicht abtrünnig.
Ich habe keine Ahnung, ob dieses Wissen meinen Zustand noch verrückter macht, als er ohnehin ist. Das Modul unternimmt absolut gar nichts, um mich am Nachdenken über seinen Einfluß auf mich zu hindern. Wahrscheinlich hält man das sogar für unerläßlich. Denn wenn ich nicht nachvollziehen könnte, was mit mir passiert ist, dann könnte der Konflikt zwischen dem, was ich jetzt will, und dem Wissen um den Grund meines Wollens sich dramatisch zuspitzen.
Hätte ich nicht die mindeste Idee, warum die INITIATIVE nun mein Lebensinhalt ist, dann würde ich vielleicht wahnsinnig werden bei dem unaufhörlichen Bemühen, es herauszufinden. Natürlich hätte man das Modul so konstruieren können, daß es sein Vorhandensein verschleierte und solche Fragen gar nicht erst aufkommen ließ – aber diese Art von Zensur nahtlos in ein Gehirn einzubauen, ist sehr schwierig und muß oft mit Einschränkungen der
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