Quellcode
Sie konnte durchsehen, wenn auch verschwommen. Sie blickte hinüber zur Ecke Clark und Sunset und konnte den Whisky-Club dort erkennen. Alberto streckte die Hand aus und nestelte an einem Kabel an der Seite des Visiers herum.
»Diese Richtung«, sagte er und führte sie über den Gehweg zu einer niedrigen, schwarz gestrichenen Fassade ohne Fenster. Hollis blinzelte zu der Aufschrift hinauf. The Viper Room.
»Jetzt«, sagte er, und sie hörte die Tastatur des Laptops klappern. Irgendetwas in ihrem Gesichtsfeld flackerte. »Schau. Schau dahin!«
Sie folgte seiner Geste, drehte sich um und sah einen schlanken Körper, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Gehweg lag.
»Alloween-Nacht 1993«, sagte Odile. Hollis näherte sich dem Körper. Der nicht da war. Und doch da war. Alberto folgte ihr mit dem Laptop, vorsichtig wegen des Kabels. Sie hatte das Gefühl, dass er den Atem anhielt. Und sie hielt ihren an.
Der junge Mann wirkte vogelgleich im Tod, und der Bogen seines Wangenknochens warf einen eigenen kleinen Schatten, als sie sich über ihn beugte. Sein Haar war sehr dunkel. Er trug dunkle Hosen mit Nadelstreifen und ein dunkles Hemd. »Wer ist das?«, wollte Hollis wissen und fand ihren Atem wieder.
»River Phoenix«, sagte Alberto ruhig.
Sie sah auf, zum Whisky-Club hinüber, dann wieder hinuner, ergriffen von der Verletzlichkeit des weißen Nackens. »River Phoenix war blond«, sagte sie.
»Er hatte es sich gefärbt«, entgegnete Alberto. »Für eine Rolle.«
2. AMEISEN IM WASSER
Der alte Mann erinnerte Tito an die ausgeblichenen Geisterreklamen an den fensterlosen Fassaden schwarz gewordener Gebäude. Produktnamen, denen die Zeit ihre Bedeutung genommen hatte.
Hätte eine davon die allerneueste, aktuellste und schrecklichste Nachricht verkündet, obwohl man doch wusste, dass sie schon immer da war, immer mehr verblich, jedes Wetter überdauerte und bis heute unbemerkt geblieben war, wäre das für Tito ungefähr genauso gewesen, wie es war, sich mit dem Alten am Washington Square zu treffen, bei den Schachtischen aus Beton, und ihm vorsichtig in einer gefalteten Zeitung einen iPod zu übergeben.
Jedes Mal, wenn der Alte mit unbewegter Miene und abgewandtem Blick einen weiteren iPod einsackte, fiel Tito das stumpfe Gold seiner Armbanduhr auf, Zifferblatt und Zeiger fast unsichtbar unter dem verkratzten Plastik-Uhrglas. Die Uhr eines Toten, wie die Uhren, die wild durcheinander in alten Zigarrenkisten auf dem Flohmarkt lagen.
Auch seine Kleider waren wie die eines Toten, aus Stoffen, die in Titos Vorstellung eine besondere Kühle verströmten, eine Kälte, ganz anders als die des wechselhaften Winters in New York, der gerade zu Ende ging. Die Kälte von herrenlosem Gepäck, von Behördenkorridoren, von Schließfächern, abgewetzt bis aufs blanke Metall.
Aber das war sicher Kostümierung, gehörte zum Auftrittsprotokoll. Der Alte konnte nicht wirklich arm sein, wenn er Geschäfte mit Titos Onkeln machte. Da Tito eine ungeheure Geduld und Macht spürte, nahm er an, der Alte verkleide sich als Wiedergänger aus der Vergangenheit von Lower Manhattan und habe seine Gründe dafür.
Jedes Mal, wenn der Alte einen weiteren iPod entgegennahm wie ein uralter, weiser Affe ein Stück einer nicht sonderlich attraktiven Frucht entgegennimmt, rechnete Tito damit, er würde das jungfräulich weiße Gehäuse wie eine Nuss aufknacken und etwas ganz Sonderbares, ganz Grässliches und in seiner Modernität ganz Abstoßendes daraus hervorziehen.
Aber jetzt, in diesem Restaurant im ersten Stock über der Canal Street mit der dampfenden Terrine Entensuppe vor sich, fühlte Tito sich außer Stande, seinem Cousin Alejandro davon zu erzählen. Zuvor, in seinem Zimmer, hatte er Töne übereinander gelegt und versucht, die Gefühle, die der Alte in ihm weckte, in Musik auszudrücken. Doch er bezweifelte, dass er Alejandro dieses Stück jemals vorspielen würde.
Alejandro, der sich noch nie für Titos Musik interessiert hatte, sah ihn jetzt an, eine glatte Stirn zwischen schulterlangem, in der Mitte gescheiteltem Haar, sagte nichts und schöpfte behut-sam Suppe zuerst in Titos Schale, dann in seine eigene. Die Welt jenseits der Restaurantfenster, hinter den plastikroten Wörtern in chinesischen Schriftzeichen, die keiner von beiden lesen konnte, hatte die Farbe einer seit Jahrzehnten in einer Schublade vergessenen Silbermünze.
Alejandro nahm immer alles ganz genau, war hochbegabt, aber auch äußerst praktisch veranlagt.
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