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Deswegen war er bei der grauen Juana, ihrer Tante, in die Lehre gegangen, der Meisterfälscherin der Familie. Tito hatte für Alejandro alte mechanische Schreibmaschinen durch die Straßen von Downtown Manhattan geschleppt, unglaublich schwere Dinger, die er in staubigen Lagerhäusern auf der anderen Seite des Flusses erstand, nur um an die Farbbänder darin zu kommen. Und er hatte auch das Terpentin besorgt, das Alejandro benutzte, um möglichst viel Tinte aus den Farbbändern herauszuwaschen. Ihre Heimat Kuba, so hatte Juana ihnen beigebracht, war ein Königreich des Papiers, ein bürokratischer Irrgarten von Formularen, von dreifachen Kohledurchschlägen – ein Reich, durch das der Eingeweihte mit Zuversicht und Präzision navigieren konnte. Präzision, darüber verfügte Juana ganz besonders, die ihrerseits in den weiß getünchten Kellern eines Gebäudes in die Lehre gegangen war, dessen obere Stockwerke begrenzte Ausblicke auf den Kreml gewährten.
»Er macht dir Angst, dieser Alte«, sagte Alejandro.
Alejandro hatte Juanas tausend Tricks mit Papier, Klebern, Wasserzeichen und Stempeln kennen gelernt, ihre Zauberkunst in improvisierten Dunkelkammern und noch dunklere Geheimnisse, die unter anderem mit den Namen früh verstorbener Kinder zu tun hatten. Manchmal hatte Tito monatelang zerfledderte Brieftaschen mit sich herumgetragen, ausgebeult von den Fragmenten der Identitäten, die Alejandros Lehrzeit hervorgebracht hatte. Die permanente Nähe zu seinem Körper sollte ihnen jeglichen Anschein des Neuen nehmen. Niemals hatte er die Ausweise und gefalteten Dokumente angefasst, die durch die Wärme und Bewegungen seines Körpers etwas überzeugend Speckiges bekamen. Wenn Alejandro sie aus ihren fleckigen Lederhüllen nahm, die Verstorbenen gehört hatten, zog er dafür OP-Handschuhe an.
»Nein«, antwortete Tito, »er macht mir keine Angst«. Obwohl er sich nicht sicher war. Angst war irgendwie auch dabei, aber es war wohl keine Angst vor dem Alten selbst.
»Vielleicht sollte er das, Cousin.«
Die Kraft von Juanas Magie war verblasst angesichts neuer Technologien und weil die Regierung immer mehr Wert auf »Sicherheit« legte, die in Wirklichkeit Kontrolle meinte, das wusste Tito. Die Familie verließ sich jetzt weniger auf Juanas Fertigkeiten und bezog die meisten Dokumente (so glaubte Tito) von anderen, Dokumente, die den Anforderungen der Gegenwart mehr entsprachen. Tito wusste auch, dass Alejandro das nicht bedauerte. Mit dreißig, acht Jahre älter als Tito, war er zu der Ansicht gelangt, dass das Leben mit einer solchen Familie ein zweifelhaftes Vergnügen war. Die Zeichnungen, die Alejandro an die Fenster seines Apartments geklebt hatte und die dort verblichen, waren ein Teil davon. Alejandro zeichnete wunderschön, scheinbar mühelos in jedem Stil, und es gab ein unausgesprochenes Einverständnis zwischen ihnen, dass Alejandro die Feinheiten von Juanas Magie jetzt in die vornehmere Welt der Galerien und Sammler beförderte.
Alejandro reichte Tito jetzt vorsichtig eine kleine weiße Porzellanschüssel, angefüllt mit duftender Wärme, und kam auf einen gemeinsamen Onkel zu sprechen: »Carlito. Was hat Carlito dir von ihm erzählt?«
»Dass er Russisch spricht.« Tito und Alejandro sprachen im Moment spanisch. »Dass ich auf Russisch antworten kann, wenn er mich russisch anspricht.«
Alejandro runzelte die Stirn.
»Und dass er unseren Großvater kannte, in Havanna.«
Alejandros weißer Porzellanlöffel blieb über der Suppe in der Luft hängen. »Ein Amerikaner?«
Tito nickte.
»Die einzigen Amerikaner, die unser Großvater in Havanna kannte, waren von der CIA«, sagte Alejandro ganz leise, obwohl außer dem Kellner, der hinter dem Tresen eine chinesische Zeitschrift las, kein Mensch mehr im Lokal war.
Tito musste daran denken, wie er mit seiner Mutter zum chinesischen Friedhof hinter der Calle 23 gegangen war, kurz bevor er nach New York kam. Irgendetwas war aus einem der kleinen Beinhäuser dort geholt worden, und Tito hatte es anderswohin geliefert, stolz am Gewerbe seiner Familie teilzuhaben. In der stinkenden Toilette hinter einem Restaurant am Malecon hatte er die Papiere in ihrem angeschimmelten Umschlag aus gummiertem Stoff rasch durchgesehen. Er hatte heute keine Ahnung mehr, was für Papiere es waren, aber er wusste noch, dass sie in einem Englisch gedruckt waren, das er kaum verstehen konnte.
Er hatte es noch nie jemandem erzählt und erzählte es auch jetzt Alejandro nicht.
Seine
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