Querschläger
leise vor sich hin. Nikolas Hrubesch hatte sich verkannt und gedemütigt gefühlt. Zugleich hatte er nach Macht gegiert. Nach der Gewalt über Leben und Tod. Sie war sich trotz der vielen Informationen, die sie inzwischen über Hrubesch hatten, nicht sicher, wie viel von all dem offen zu erkennen gewesen war, aber zumindest musste es sich Laurin mit der Zeit erschlossen haben, nachdem er sich erst einmal auf das Abenteuer eingelassen hatte, ein Massaker zu planen.
Ich wollte Nikolas motivieren …
»Und das ist dir gelungen«, murmelte Winnie Heller. »Nikolas wurde dein Werkzeug. Aber du hast dich verschätzt. Du hast nicht bedacht, dass dieser Junge sich nicht umsonst verkannt fühlte, sondern wirklich clever war. So clever, dass er seine eigenen Pläne und Ziele verfolgt hat.« Sie sah sich um und wechselte abermals die Spur. »Du hast nicht bedacht, dass er leben wollte, um etwas von seinem Ruhm zu haben. Und an dieser Stelle hast du deinen ersten Fehler begangen.«
Den alles entscheidenden Fehler, setzte sie in Gedanken hinzu. Und der nächste Fehler, den du begangen hast, war Karla Oppendorf. Du konntest der Versuchung nicht widerstehen, das Netz unter deinem Hochseil noch ein wenig dichter zu knüpfen. Ein junges Mädchen, das zutiefst geschockt durch die Flure irrt – was für eine leichte Beute! Vielleicht hast du deine Autorität als Lehrer genutzt und sie überredet, mit dir zu gehen. Und dann hast du sie in die Bibliothek geführt, wo du lange vorher Beate Soltau erschossen hattest, dein eigentliches Ziel. Das Opfer, mit dem du begonnen hast, ganz wie wir vermutet haben. Hast du sie schon in der kleinen Pause zwischen der vierten und fünften Stunde erschossen, eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Amoklauf? Winnie Heller schob nachdenklich die Unterlippe vor. Wer würde sich um einen Knall gekümmert haben, in diesem Durchgangsgebäude, wenn ringsum der Schülerlärm tobt?, dachte sie. Wenn alles durcheinander rennt, um den nächsten Klassenraum zu erreichen oder hastig eine Zigarette zu rauchen und nebenbei ein paar Neuigkeiten auszutauschen? Oder aber Laurin hat das Klingelzeichen abgewartet, das die Pause beendet, überlegte sie weiter. Vielleicht hat er mitten in das schrille Plärren der Schulklingel geschossen … Ja, dachte sie, so könnte es durchaus gewesen sein. Beate Soltau ist eben im Begriff, in ihr Büro zurückzukehren, als ihr ehemaliger Schwarm in der Tür steht. Vielleicht ist sie verwundert, weil sie sich nicht erklären kann, was Laurin von ihr will, denn immerhin ist es kurz nach Ablauf der offiziellen Öffnungszeit. Aber er lächelt sein charmantes Lächeln, und als es läutet, knallt er sie ab. Und dann nimmt er den Schlüssel und schließt die Leiche ein, damit auch ja keiner durch Zufall auf die Tote stößt, bevor er in aller Seelenruhe zu seiner nächsten Unterrichtsstunde geht und darauf wartet, dass Hrubesch sein Massaker in Gang setzt. Allerdings hat er ein Problem, denn er muss davon ausgehen, dass Hrubesch die Bibliothek buchstäblich links liegen lässt. Schließlich kann er nicht damit rechnen, dass sich überhaupt jemand dort aufhält. Und das bedeutet … Winnie Heller leckte sich über die Lippen, die vor lauter Aufregung trocken geworden waren. Das bedeutet, dass Laurin dafür sorgen musste, dass die Türen zur Bibliothek offen sind, wenn die Polizei eintrifft, schloss sie. Damit nicht auffällt, dass Hrubesch niemals dort war. Also kehrt er in den zweiten Stock zurück, nachdem er Hrubesch erschossen hat. Dort läuft ihm Karla Oppendorf über den Weg, und vielleicht hält er es für eine Fügung, dass sich ihm auf diese Weise die Gelegenheit bietet, das tote Mädchen ganz gezielt in dem Raum zu platzieren, in dem sein eigentliches Opfer liegt. Zwei Leichen in der Bibliothek, und es wird sich bestimmt keiner mehr fragen, warum die Türen offen gewesen sind, zu einem Zeitpunkt, an dem sie eigentlich verschlossen sein sollten …
Aber Karla Oppendorf ist gesehen worden, dachte Winnie Heller, und die vermeintliche leichte Beute wurde zu einem ernst zu nehmenden Widerspruch!
»Die Sache ist doch sonnenklar«, wiederholte sie und bedauerte fast, dass Verhoeven sie nicht hören konnte. »Die Fehler verselbstständigen sich, Laurin kriegt kalte Füße und ersticht Steven Höhmann, um Sven Strohte zum zweiten Mal als Schuldigen dastehen zu lassen. Und dann bestellt er … Aber Moment! Augenblick!«, unterbrach sie sich selbst. »Warum hat Laurin Steven Höhmann
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