Querschläger
Nikolas gut benotet, weil ich ihn motivieren wollte, hörte sie die angenehm männliche Stimme Sander Laurins flüstern, als sie sich eben anschickte, einen rostigen Motorroller zu überholen, der ungeniert zwei Drittel des Fahrstreifens für sich einnahm. In der Art und Weise, in der sie sich künstlerisch ausdrücken, offenbaren die Menschen ihr eigentliches Potenzial.
Oh ja, dachte Winnie Heller, in seiner Überheblichkeit hat er uns ganz klar gesagt, was Sache ist! Ein verkanntes Genie. Jemand mit einem enormen Talent, zweifelsohne. Aber es war ein Talent, das nicht das Geringste mit Kunst zu tun hatte, obwohl Sander Laurin sich genau das vermutlich immer gewünscht hatte. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt, hörte Winnie Heller ihn wie zur Bestätigung ihrer These sagen. Ganz abgesehen davon, dass ich schon während meines Studiums nicht umhinkonnte, den kreativen Teil meiner Begabung in realistischen Zusammenhängen zu sehen. Er hatte ohne Bitterkeit gesprochen, aber natürlich war ein Mann seines Alters erfahren genug, um seine Emotionen im Griff zu haben. Winnie Heller stellte sich sein charismatisches Lächeln vor und auch die Wirkung, die ein Mann wie er auf die romantische Beate Soltau gehabt haben musste. Beate war immer so fasziniert von Menschen, die kreativ arbeiten, wissen Sie?, seufzte eine imaginäre Nicole Herrgen. Sie hatte solche Angst, dass Sander als Lehrer versauert.
Bestimmt ist Laurin genervt gewesen, als die Soltau ihn zum ersten Mal angesprochen und zu sich nach Hause eingeladen hatte, dachte Winnie Heller, als sie an der nächsten roten Ampel halten musste. Vielleicht hat er auch nur zugesagt, weil ihm auf die Schnelle keine plausible Ausrede eingefallen ist. Und dann kommt er in ihre Wohnung und sieht einen Kirchner, einen echten Kirchner! Was mochte das für ein Gefühl gewesen sein, einer solchen Banausin von einer Frau schöne Augen machen zu müssen, um ihr vielleicht eines Tages das begehrte Bild abschwatzen zu können? Aber er musste unbedingt ihr Vertrauen gewinnen, überlegte Winnie Heller weiter. Er musste unauffällig agieren, damit sie keinen Verdacht schöpft. Und auf gar keinen Fall durfte er sein Interesse an ihrem Kleinod allzu offen zeigen.
Und dann?
Tja, dann war – wie so oft im Leben – der Zufall ins Spiel gekommen …
Winnie Heller wischte sich flüchtig über die Stirn, als unvermittelt wieder die Bilder des Überfalls in ihr aufstiegen. Die lackierten Blätter. Blusenknöpfe, die über den brüchigen Asphalt hüpften, drei an der Zahl. Die Scheinwerfer jener Unbekannten, die ihr das Leben gerettet hatten. Bleib bei der Sache!, mahnte ihre innere Stimme. Es geht hier um einen gottverdammten Massenmord, also konzentrier dich gefälligst auf das Hier und Jetzt, damit du deinen Boss mit einer gründlich durchdachten Herleitung beeindrucken kannst, um vielleicht doch eines Tages verbeamtet zu werden …
Also, die Beziehung zwischen Laurin und Beate Soltau dümpelt so dahin, setzte sie ihre Gedankenspiele fort, und vielleicht ist er tatsächlich schon kurz davor gewesen, ihr den Kirchner abzuschwatzen. Aber dann hat sie die Schnapsidee, ihre Freundin spontan ins Kino einzuladen. Und das auch noch ausgerechnet in den Film, in dem Laurin mit seiner Geliebten sitzt. Und da Beate Soltau eine überaus konsequente Frau gewesen ist, schloss Winnie Heller, war’s das dann auch von ihrer Seite. Diese Frau war der nachtragendste Mensch auf dem ganzen Planeten, stöhnte ein imaginärer Kröll. Wenn eine Sache erst einmal vorbei war, dann war es für Beate unwiderruflich aus, stimmte Nicole Herrgen ihm zu. Schluss, vorbei, Ofen aus, resümierte Winnie Heller. Und Sander Laurin hatte keine Möglichkeit mehr, sein Vorkriegsschätzchen aus Beate Soltaus Wohnung zu bekommen. Wie wütend muss ihn das gemacht haben! Vielleicht hat er versucht, die Sache wieder hinzubiegen. Und dann hört er, dass die Soltau diesen Galeristen kennt. Einen Mann, der im Gegensatz zu ihr über genügend Kunstverstand verfügt, um einen Kirchner zu erkennen, wenn er ihm direkt vor der Nase hängt. Und Laurin entschließt sich, zu handeln … Wahrscheinlich hat er schon seit langem gewohnheitsmäßig andere Leute beobachtet, spekulierte Winnie Heller. Er beobachtet sie und lotet ihr Potenzial aus. Und in Hrubeschs Fall erkennt er etwas, das sich schüren lässt. Einen Hass. Das zerstörerische Gefühl permanenter Unterschätzung. Winnie Heller nickte
Weitere Kostenlose Bücher