Querschläger
vom Körper. Aber wohin damit? Wohin, verdammt noch mal?
Ihre Blicke flogen durch die enge Kabine. Kein Fenster. Kein Spülkasten. Nicht einmal ein Mülleimer. Nur einer von diesen überdimensionalen Abrollern für Toilettenpapier, bei denen sie noch nie kapiert hatte, wie sie funktionierten. Ihre zitternde Hand tastete den Schlitz ab, durch den das Papier nach draußen lief. Wie zum Henker wechselte man diese verdammten Rollen? Irgendwo musste so ein Ding doch schließlich aufgehen. Irgendwo … Sie erstarrte mitten in der Bewegung, als sie die Tür hörte. Die Tür zur Tanzfläche. Ein paar flüchtige Augenblicke lang war das Wummern der Bässe angeschwollen. Dann Schritte. Gummisohlen auf Linoleum. Er bemühte sich, so leise wie möglich zu sein, aber ihre Instinkte waren noch immer bis aufs Äußerste geschärft. Sie hörte ihn trotzdem. Es war ein Mann, eindeutig. Und sie hatte keinerlei Zweifel an seiner Identität.
Sie wich einen Schritt von der Tür zurück und blickte an sich herunter, wobei ihr die Rötung auffiel, die der Klebestreifen auf ihrer Haut hinterlassen hatte. Jener Klebestreifen, den sie eigenmächtig und zusätzlich zu der üblichen Befestigung benutzt hatte, damit das Mikro auch ja an seinem Platz blieb. Warum, um alles in der Welt, musste sie auch immer alles zweihundertprozentig absichern? Das darf der Typ auf keinen Fall zu sehen kriegen, fluchte sie im Stillen und warf das Mikro samt Ohrknopf kurzerhand in die Kloschüssel. Dann knöpfte sie in aller Eile ihre Bluse wieder zu, so weit, bis ihr Dekolleté einschließlich der verdächtigen Rötung züchtig bedeckt war, und riss ein paar Blatt Toilettenpapier von der Rolle an der Wand. Zugleich lauschte sie nach den Schritten, die sie gehört hatte.
Wo war dieser Scheißkerl hin? War er …?
Sie hörte nichts mehr. Kein Laut, kein Atemzug verriet die Anwesenheit einer zweiten Person. Aber er war da. Sie wusste, dass er da war. Sie konnte ihn fühlen, seine Präsenz. Seine Nähe …
Warum ist der Kerl nicht längst hier drin?, zuckte es durch ihre Gedanken. Warum hat er die Tür noch nicht aufgebrochen, eingetreten, was auch immer? Schließlich sind wir ganz allein. Und er muss auf den ersten Blick gesehen haben, in welcher der Kabinen ich mich befinde. Warum zum Henker ist er noch nicht da?
Worauf wartet er?
Dass ich von selbst herauskomme?
Und warum ist es eigentlich so gottverdammt einsam hier? Muss denn keine einzige von all diesen durchgestylten Tussen da draußen pinkeln? Und warum kommt nicht wenigstens mal eine von ihnen hier rein, um ihr Make-up aufzufrischen? Oder ein paar Lines zu ziehen? Oder sich mit ihrem Freund zu vergnügen? Aus den Augenwinkeln schielte sie an der dünnen Trennwand hinauf. Wenn er in die Nachbarkabine gegangen war und … Vor ihrem inneren Auge dämmerten Bilder herauf. Sigourney Weaver als traumatisierte Psychologin in C opykill. Sie trägt ein knallrotes, überaus elegantes Kostüm, weil sie gerade einen Vortrag gehalten hat, und will vor ihrer Abfahrt nur noch mal schnell die Toilette benutzen. Und dann ist da dieser Wahnsinnige, dessen Hand urplötzlich über der Trennwand zur Nachbarkabine auftaucht und der ihr einen Strick um den Hals legt. Oder war es ein Drahtseil? Winnie Heller schüttelte ratlos den Kopf. Sie erinnerte sich nicht mehr. Nur daran, dass Sigourney Weaver ein paar Sekunden später unter der niedrigen Decke baumelt und röchelnd nach Luft ringt. Blut und Gehirnmasse irgendeines Polizisten oder Wachmannes waren gegen die Kacheln über den Waschbecken gespritzt, aber das war ein Trick gewesen, nur ein Trick, oder nicht? Sie runzelte die Stirn. Wieso fiel ihr nicht mehr ein, wie die Szene weiterging? Immerhin war es doch eine Art Schlüsselszene und …
Du kannst dich nicht ewig hier drinnen verkriechen. Damit machst du dich nur unnötig verdächtig. Also tu gefälligst irgendwas! Handle!
Winnie Heller betätigte die Spülung, fiel auf die Knie und steckte sich kurzerhand einen Finger in den Hals. Das Kotzen fiel ihr bei weitem nicht so leicht, wie sie gehofft hatte, aber es ging irgendwie. Allerdings musste sie recht grob mit sich werden. Die zarten Schleimhäute in ihrem Rachen zogen sich schmerzvoll zusammen, als sie sich den Zeigefinger bis zum Anschlag in den Hals rammte. Sie verspürte einen leichten Brechreiz. Aber es reichte nicht. Noch nicht. Sie war kein Mensch, der sich leicht übergab, eher im Gegenteil: Diese Form der Erleichterung war ihr von jeher ausgesprochen
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