Quintessenzen
ich tatsächlich immer wieder und weiter gründlich am Einzelstück arbeiten und herumfeilen und das Ergebnis im Mai 2011 überreichen, manuell in Leinen gebunden und rechtzeitig zu Lisas achtzehntem Geburtstag. Womit (nicht nur) diesbezüglich im Grunde alles gesagt und getan war.
Allerdings hatten sich auf dem mehrjährigen Weg vom Versprechen zum fertigen Buch ein paar Verpflichtungen ergeben, denn ich hatte von Anfang an meine Texte auf einer zunächst vollständig privaten Webseite ins Netz gestellt und meinen Vertrautenkreis gebeten, mir ergänzend, korrigierend und kritisierend beizustehen, was etliche dieser Freundinnen und Freunde dann auch taten. Weshalb ich 2011 deren freundliche Bitten um jeweils ein eigenes Exemplar schlechterdings nicht zurückweisen konnte. Und eigentlich auch nicht die geäußerten Bitten um Zweitexemplare zum Weitergeben an Freundesfreunde oder deren gerade volljährig gewordene Kinder. Was dann allerdings bedeutet hätte, dass ich circa zehn Pakete elfenbeinfarbenes Papier, 50 Leineneinbände und mindestens zwei neue Tonerkartuschen benötigt hätte. Sowie reichlich Nerven, denn das beidseitige Bedrucken geht bei meinem Drucker gewohnheitsmäßig schief, außerdem wellt sich das Papier wegen der Hitzeentwicklung, was dann im Leinenverbund nicht schön aussieht – und es kostet Zeit. Wovon ich zu wenig habe, ebenso wie Nerven, von letzteren sogar qua Attest.
Weshalb ich Ende 2011, nach der banalen Erkenntnis von oben (dass ich das Werk durch Vervielfältigung nicht wertmindere oder zerstöre) statt zwanzig zunächst bloß vier zusätzliche Exemplare produzierte und an vier Verlage schickte, die in der Vergangenheit bereits das eine oder andere Buch von mir veröffentlicht hatten. Mit der Frage, ob sie mir die Druckerei abnehmen könnten – sofern sie den Inhalt des Buches für vorzeigenswert hielten. Alle vier hielten ihn für vorzeigenswert, einer sogar für schön, wichtig und ökonomisch vertretbar. Was mich freute. Und immer noch freut. Und wenn ich Glück habe, bleibe ich mit dieser Freude nicht allein.
In Lisas Exemplar, dem ersten, stand ein anderes Vorwort. Eines, das nun wirklich nicht teilbar ist, jedenfalls nicht ganz. Vier kurze Absätze daraus aber konnte ich nicht umformulieren und will sie auch nicht ersatzlos weglassen. Weshalb sie den Abschluss dieser Einleitung bilden sollen, inklusive des gelegentlichen »Du«, an dem Sie sich bitte weder hier noch im weiteren Verlauf stören. Sollten Sie es für despektierlich halten, weil wir zwei uns doch gar nicht kennen, lesen Sie es bitte als »Sie«, denn es ist so oder so respektvoll gemeint, jederzeit.
»Eine Quintessenz gestatte mir vorneweg. Es fehlen auf den folgenden Seiten fast alle knackigen Sinnsprüche im Stile von ›Sei dir selbst treu‹, ›Höre auf deine innere Stimme‹ und ›Alles wird gut, wenn du weißt, was du willst und weißt, wen du darum bitten musst‹. Der Wohlklang solcher Sinnsprüche ist wertlos, solange wir nicht wissen, was oder wer das ›Ich, Dir, Dich, Selbst‹ im Kern all dieser Aussagen überhaupt ist. Deshalb hat vor allem anderen zu stehen unser Bemühen um Selbsterkenntnis oder wenigstens Annäherung an die Antwort auf die Frage ›Wer ist das, ich, oder: Wer soll das sein?‹
Natürlich haben die Spitzfindigen doppelt recht: a) sind wir nur dann ganz frei, wenn wir uns ganz kennen, b) kennen wir uns nie ganz, denn wir sind und bleiben gefangen in unserer eigenen Biographie. Wohl aber sind wir frei, uns diesem ›Ich‹ zu nähern und je unerschrockener wir diese Reise antreten, desto besser.
Ideale Abflughäfen sind immer Zäsurpunkte wie der, an dem du dich gerade befindest, da du die Schule verlässt, dich auf Neuland zubewegst, auf neue Menschen, neue Ideen, neue Aufgaben, ein neues Umfeld, denn dort kennt niemand das ›Ich‹, das du mit dir trägst, und es wird überhaupt niemandem auffallen, solltest du dich ›neu erzählen‹ und jene Teile dieses ›Ich‹ zurücklassen, die du unbewusst oder bewusst ohnehin als fragwürdig, störend oder hinderlich empfandest. Mit dem Wegfall des vertrauten Umfeldes fallen nun nämlich auch haufenweise nie ausgesprochene Erwartungen weg, fremde wie eigene, und diese Chance solltest du nutzen. Zwar haben wir auch später im Leben immer wieder Gelegenheit, ganz neu anzufangen, aber oft sind die Umstände weniger erfreulich als jetzt, drum wohnt dem endgültigen, qua School’s out! prima zu bejubelnden Übergang aus Kindheit und
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