Quitt
finden. Und in Einsamkeit ist er dort oben gestorben, nicht ohne daß sich zu seinem körperlichen Schmerz auch noch der Schmerz des Gewissens gesellt hätte, wie seine letzten Worte mit aller Bestimmtheit bezeugen. Wir fanden ihn den zweiten Tag, hoch auf dem Kamm des Gebirges, tot, mit einem in die Brusttasche gesteckten Zettel, auf den er, nachdem er sich eigens die Hand mit seinem Messer geritzt, all das mit Blut niedergeschrieben, was ihm in seiner letzten schweren Stunde das Herz bewegt hatte. Das Holzstäbchen, das ihm dabei gedient, hielt er noch in seiner Rechten. Die niedergeschriebenen Worte aber lauten: ›Vater unser, der du bist im Himmel... Und vergib uns unsere Schuld... Und du, Sohn und Heiland, der du für uns gestorben bist, tritt ein für mich und rette mich... Und vergib uns unsere Schuld... Ich hoffe: quitt.‹ Mir aber, der ich, neben der Meldung vom Tode des Lehnert Menz, auch diese seine letzten Worte zu Ihrer Kenntnis zu bringen hatte, sei es gestattet, hinzuzufügen, daß ich der Überzeugung lebe, seine Buße habe seine Schuld gesühnt: ›Hoffnung läßt nicht zuschanden werden.‹
Eines verehrlichen Kirchen- und Gemeindevorstandes zu Wolfshau (Krummhübel) ganz ergebenster Obadja Hornbostel, Prediger und Vorstand der Mennonitengemeinde zu Nogat-Ehre, Indian-Territory. U. St.«
Siebenunddreißigstes Kapitel
Es war grad am Johannistage, daß dieser Brief Obadjas in Krummhübel eintraf und, nach einigem Schwanken, wer denn eigentlich als Adressat anzusehen sei (denn es gab keinen Kirchen- und Gemeindevorstand von Wolfshau), von dem neuen Arnsdorfer Pastor unter Herzuziehung von Exner und Gerichtsmann Klose geöffnet und gelesen wurde. Selbstverständlich in großer Aufregung, an der alsbald das ganze Dorf teilnahm, vor allem die Wolfshauer. Wer irgend konnte, nahm Abschrift von dem Brief, auch Exner und Klose, da das Original zu den Akten mußte.
Das war am Johannistag 1885.
Drei Tage später kam auf der Krummhübler Chaussee, von Schmiedeberg her, ein Zweispänner herauf, hinten mit einem auf die Pritsche geschnallten großen Reisekorb, vorn aber mit einem obeliskartig aufgerichteten Lederkoffer. Halb in Deckung dieses Koffers, und zugleich Schulter an Schulter mit dem Kutscher, saß ein kleiner Herr in einem modischen, grau-und braunmelierten Reiseanzug und sprach dann und wann lebhaft in den mit drei Damen besetzten Fond des Wagens hinein. Alle schienen heiter und ausgelassen. Aber wer sie waren, ließ sich nicht deutlich erkennen, da sich die Damen mit ihren Sonnenschirmen und der kleine Herr sogar mit einem graukattunenen Regenschirm gegen die Sonne schützten. Eins nur war gewiß, sie konnten nicht fremd an dieser Stelle sein; das sah man an ihren Bewegungen und lebhaft vorgestreckten Zeigefingern, wenn sie den einen oder anderen Punkt wiedererkannten.
So kamen sie bis an den ziemlich steilen Abhang, der von der Untermühle her zum Dorfe hinaufführt, und bogen nach Passierung dieser von allen Hauderern und Lohnkutschern gefürchteten Stelle glücklich, an der Schmiede vorüber, in die Dorfstraße ein. Und nun hielten sie vor der »Schneekoppe«, wo sie schon erwartet zu werden schienen, denn alles stand in der Tür, um sie zu begrüßen, auch Marie, die seit den mittlerweile verflossenen sieben Jahren noch etwas korpulenter, aber, trotz aller Korpulenz, nur eleganter und hübscher geworden war. Endlich wurden auch die Schirme zugeklappt, die rotseidnen wie der kattunene, und jeder sah nun, daß es Espes waren.
Ja, es waren Espes, die, nach Begrüßung der gesamten Exnerfamilie, sofort auf die offene Halle zuschritten und hier an ihrem Stammtische Platz nahmen.
»Nun, Marie, da sind wir wieder. Alles unverändert; herrlich! Und Sie selber! Immer jünger geworden... Wenn ich Sie bitten darf, Marie: vier Schnitzel und zwei Kulmbacher. Und zwei Himbeerlimonaden... Oder haben die Damen vielleicht andere Befehle? Geraldine, vielleicht Mosel und Erdbeeren?«
Espe sagte das alles sehr forsch und zeigte sich überhaupt verwandelt, sogar in seiner Haltung seiner Frau gegenüber, was ihm gut stand und als ein Resultat der großen Ereignisse der letzten zwei Jahre – er war »Geheimer« geworden – angesehen werden konnte. Das eigentlich Ausschlaggebende lag aber erst ganz kurze Zeit zurück und bestand darin, daß ihm, beim letzten Ordensfeste, die dritte Klasse behändigt worden war, bei welcher Gelegenheit (ein Glück kommt nie allein) der an ihn herantretende Kronprinz mit
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