Quitt
dem Lindenzweig ab, und Ruth sah wohl, daß ihn dieser Zweig ganz besonders erfreut hatte.
»Das dankst du dem Mister Kaulbars und seiner Frau«, sagte Ruth. »Die sagten, das sei so Sitte drüben. Und da bin ich selber gegangen und habe den Zweig gepflückt und um die Milchkufe gelegt, aber, die Wahrheit zu gestehen, doch nur mit halber Freude. Denn die Kaulbarse, besonders aber
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, wollen alles preußisch machen, und wenn ich denke, daß du nun auch ein Landsmann von ihnen bist, so beschleicht mich eine kleine Furcht, daß wir hier eine preußische Kolonie werden.«
»Das hat gute Wege«, lachte Lehnert, »ich habe das Alte drüben gelassen.«
»Ja«, fuhr Ruth fort, »das sagen alle, die herüberkommen, und auch die Kaulbarse haben so was gesagt; aber eigentlich halten sie fest am alten, und da macht keiner eine Ausnahme, nicht einmal Monsieur L'Hermite, der freilich nicht am alten hängt, aber doch an seinen alt mitgebrachten Ideen, und sich dabei einbildet, was mindestens ebenso schlimm ist, der Neueste der Neuen zu sein.«
»Und soll er es nicht?« warf Toby ein. »Ist er nicht der Allerneuesten einer? Ist er nicht ein Kommunard? Und wenn du von Furcht redest, von Furcht vor Lehnert und vor den Preußen, warum, wenn du doch von ›ebenso schlimm‹ sprichst, warum fürchtest du dich nicht vor Monsieur L'Hermite und seiner Kommune?«
»Weil ich nicht an sie glaube.«
»Wie kannst du das sagen, Ruth! Das ist Torheit. Warum glaubst du nicht an sie?«
»Weil sie für uns ein Märchen ist.«
»Ein schönes Märchen! Rotkäppchen ist mir lieber.«
»Da triffst du's freilich«, lachte Ruth und war froh, von einem Gespräche loszukommen, das ganz gegen ihren Willen ins Politische hineingeraten war. Und nun tat sie noch ein paar Fragen, und als Lehnert mittlerweile sein Mahl beendet hatte, wandte sie sich wieder an den Bruder und sagte: »Nun aber ist es Zeit, Toby, daß wir Mister Lehnert auf sein Zimmer führen.«
Alle drei stiegen treppauf. Toby führte, während Ruth, im Geplauder mit Lehnert, folgte.
Der Oberstock war von ganz anderer Einrichtung als das im wesentlichen nur aus Treppenhaus, Betsaal und Halle bestehende Erdgeschoß, und wenn dieses letztere, mit Ausnahme von Obadjas Wohnzimmer, lediglich kirchlichen Zwecken oder gelegentlicher gesellschaftlicher Repräsentation diente, so diente das, was eine Treppe hoch lag, dem häuslichen Leben, der Gemütlichkeit, der Familie. Beide Hälften des Oberstockes, zwischen ihnen ein großer quadratischer Flur, waren durch einen schmalen Mittelgang wieder in eine Reihe verschiedenster Vorder – und Hinterzimmer geteilt, von denen alles Linksseitige von Maruschka, Ruth und Toby bewohnt wurde, während alles an der entgegengesetzten Seite Gelegene die Gast- und Fremdenzimmer umschloß. Eines derselben war für Lehnert bestimmt worden und lag dem Zimmer gegenüber, das von Monsieur L'Hermite bewohnt wurde.
Ruth, als man oben war, ging, sich verabschiedend, nach links hin den Gang hinunter, während Toby Lehnerts Hand nahm und ihn, nach der anderen Seite hin, auf einen in Dämmerlicht daliegenden Korridor zuführte. Nur am Ende desselben war ein Lichtschein. Dieser kam aus Monsieur L'Hermites Zimmer, das meist offenstand und dem Korridor nicht bloß einiges von seiner Helle, sondern, nicht eben zur Freude der anderen Hausbewohner, auch viel von dem »Korporal« mitteilte, da beständig darin geraucht wurde. Lehnert, als er bis heran war, warf einen Blick in das Zimmer hinein und sah hier einen hageren Mann von Mitte Fünfzig, mit Zwickelbart und Käppi, der, an einem Schraubstock eifrig beschäftigt, eben in einem scharfen Profile sichtbar wurde. Auch L'Hermite sah von der Arbeit auf und schob das Käppi nach hinten, was einen Gruß bedeuten, aber auch bloße Neugier sein konnte. Weiter darüber nachzudenken verbot sich, denn Toby hatte mittlerweile die gerad gegenüber gelegene Tür geöffnet und trat ein, während Lehnert folgte.
»Das ist nun also dein Heim, Lehnert, das dir eine Friedensstätte werden möge. So soll ich dir im Auftrage des Vaters sagen. Er hat dies Zimmer für dich ausgesucht, weil er meint, die Berge drüben würden dich freuen.«
»Das werden sie; danke deinem Vater dafür! Und nun sage du mir, wie hab ich mich drüben zu meinem Nachbar zu stellen? Er ist ein Franzose?«
»Ja. Von Geburt. Aber es ist sein nicht geringer Stolz und, wie du bald erfahren wirst, auch sein Lieblingsthema, die nationalen Vorurteile hinter sich zu
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