Quo Vadis
fiel zu Boden und, sich mit den Händen stützend, drehte er den Kopf wie ein in der Schlinge gefangenes wildes Tier, um zu sehen, von welcher Seite der Tod komme. Kaum traute er seinen Augen und Ohren und wagte nicht, Vergebung zu hoffen. Seine blauen Lippen bebten vor Schrecken; langsam nur kehrte sein Bewußtsein wieder.
„Geh in Frieden!“ sagte indes der Apostel.
Chilon erhob sich, konnte aber nicht sprechen. Er näherte sich dem Lager des Vinicius, als wollte er dort Schutz suchen; denn er hatte noch nicht Zeit gehabt, daran zu denken, daß dieser Mann, obwohl er seine Dienste benutzt hatte und zudem sein Mitschuldiger war, ihn verdammte, während die, denen er nur Böses getan hatte, ihm vergaben. Dies sollte ihm erst später klarwerden. Für jetzt sprachen nur Staunen und Zweifel aus seinen Mienen. Darum wünschte er, obgleich ihm verziehen war, sobald als möglich sich von diesen unbegreiflichen Leuten zu entfernen, deren Güte ihn fast ebenso ängstigte, wie es ihre Grausamkeit getan haben würde. Es war ihm, als würde sich, falls er noch länger bliebe, neuerdings etwas Unerwartetes ereignen; darum sagte er mit gebrochener Stimme zu Vinicius:
„Gib den Brief her, Herr, gib den Brief her!“
Indem er Vinicius die dargereichte Tafel entriß, machte er den Christen eine Kniebeugung, eine zweite dem Kranken und eilte, an der Wand sich vorbeidrängend, zur Tür hinaus. In der Dunkelheit des Gartens befiehl ihn die Furcht von neuem, wieder sträubte sich sein Haar; denn er hielt es für gewiß, daß Ursus herausstürzen und im Schutze der Nacht ihn töten würde. Mit dem Aufgebot all seiner Kräfte wäre er gern davongesprungen, aber seine Beine waren zu schwach dazu, im nächsten Augenblick versagten sie ihm geradezu den Dienst, denn Ursus stand neben ihm.
Chilon fiel mit dem Angesicht zur Erde und begann zu stöhnen:
„Urban, in Christi Namen …“
Aber Urban sagte: „Fürchte nichts! Der Apostel befahl, dich über das Tor hinaus zu begleiten, weil du dich sonst verirren könntest, und dich heimzuführen, falls dir die Kräfte fehlen sollten.“
„Was sagst du da?“ fragte Chilon, das Angesicht erhebend. „Wie, du willst mich nicht töten?“
„Nein; und wenn ich dich zu grob angegriffen und dir weh getan habe, so verzeih mir!“
„Hilf mir aufstehen!“ sagte der Grieche. „Du wirst mich nicht töten, du wirst es gewiß nicht? Bring mich auf die Straße, dann gehe ich allein weiter!“
Ursus hob ihn auf, als wäre Chilon eine Feder, und stellte ihn auf die Füße, darauf führte er ihn durch den dunklen Gang zum zweiten Hofe und durch den Eingang auf die Straße. Im Korridor sagte sich Chilon immer wieder: „Es ist um mich geschehen!“ Erst als er sich auf der Straße befand, erholte er sich und sagte zu Ursus:
„Ich kann allein weitergehen.“
„Friede sei mit dir!“
„Und mit dir! Und mit dir! Laß mich Atem holen!“
Nachdem Ursus gegangen war, atmete er mehrmals tief auf. Er befühlte Brust und Hüften, als wollte er sich überzeugen, daß er noch lebe, und beschleunigte dann seine Schritte.
„Aber warum töteten sie mich nicht?“
Und trotz seines Gespräches mit Euricius über die christliche Lehre, trotz seiner Unterredung mit Urban am Flusse, trotz allem, was er im Ostrianum gehört hatte, konnte er sich diese Frage nicht beantworten.
XXV
Auch Vinicius konnte sich das Geschehene nicht erklären; sein Staunen war nicht geringer. Daß diese Menschen ihn so behandelten und, statt sich zu rächen, seine Wunden verbanden, schrieb er wohl zum Teil ihrer Religion, hauptsächlich aber Lygia und ein wenig auch seiner hohen Würde zu. Ihr Benehmen gegen Chilon dagegen war ihm einfach unbegreiflich. Warum töteten sie den nicht? Sie hätten es ungestraft tun können. Ursus würde ihn im Garten verscharrt oder bei Nacht in den Tiber geworfen haben. In dieser Zeit so vieler nächtlicher, oft von Nero selbst begangener Morde spülte der Fluß jeden Morgen Leichen ans Ufer, und niemand achtete darauf.
Nach seinen Begriffen hatten die Christen nicht bloß die Macht, sondern auch das Recht, Chilon zu töten. Gewiß war der Welt, zu der Vinicius gehörte, das Mitleid nicht ganz unbekannt. Die Athener hatten ja dem Erbarmen einen Altar errichtet und sich lange der Einführung von Gladiatorenkämpfen nach Athen widersetzt. Auch in Rom wurde der Besiegte zuweilen begnadigt, wie Calicratus, der Britenkönig, der, zur Zeit des Claudius gefangengenommen und vom Kaiser selbst mit
Weitere Kostenlose Bücher