Raban, der Held
Antwort zurück.
Das saß. Auf jeden Fall verstummte der Kerl im Spiegel und wurde ganz ernst. Oder besser gesagt: Er schaute verlegen auf seine Füße.
„Ha!“, rief ich da. „Ha! Jetzt hältst du die Klappe. Oh, Mann! Tut das gut! Jetzt musst du nur noch verduften! Hörst du? Warum schwirrst du nicht ab und bewirbst dich als Aushilfsmonster in einer Kindergeisterbahn?!“
Ich stand da, in meinem Spiderman-Schlafanzug, die Fäuste geballt und so wütend, dass die Matratze unter mir bebte. Da hob der Raban im Spiegel den Kopf, und im selben Augenblick trug er keinen Spiderman-Schlafanzug mehr, sondern einen Nadelstreifenanzug wie Willi.
„Ich bin kein Geist!“, sagte er, so aufrichtig wie es nur ging. „Und du bist nicht Spiderman. Das weißt du genau.“
Ich schluckte. Eine Krokodilstränen-Sintflut ergriff mich. Da hatte er verflixt noch mal Recht.
„Und du bist auch kein Wilder Kerl . Wenn du ins Spiel kommst, hat der Gegner einen Mann mehr auf dem Platz. Das hat Leon schon vor dem Match gegen den Dicken Michi gesagt. Deshalb hat er dich aus der Mannschaft geworfen. Erinnerst du dich?“
Und ob ich das tat! Hottentottenalptraumnacht! Worauf wollte dieser Mistkerl hinaus?
„Das kann ich dir sagen“, antwortete er auf meine Gedanken, als wär er ein freundlicher Schutzmann, und ich fragte ihn nur nach dem Weg.
„Raban. Stell dir doch vor, du wärst nicht zurückgekehrt. Ich mein, damals, in der Halbzeit des Spiels gegen die Unbesiegbaren Sieger . Was meinst du, hätten die Wilden Fußballkerle dann heute verloren? Nein. Mit Sicherheit nicht. Das weißt du genauso wie ich. Und deshalb liegt es klar auf der Hand. Du bist Schuld daran. Schuld daran, dass es ihren Traum von der Meisterschaft jetzt nicht mehr gibt. Erinnerst du dich, wie ihr nach dem vorletzten Spiel, nach Deniz und Fabis Triumph gegen Haching , auf der Hügelkuppe über dem Teufelstopf standet? Arm in Arm und Schulter an Schulter? Das Gesicht Richtung Sonnenuntergang? Erinnerst du dich? Wie Leon bis drei zählte? Eins. Zwei. Drei. So war es doch, oder? Und dann kniff jeder von euch seine Augen zu und ohne Absprache wünschte sich jeder von euch dasselbe: Dass ihr Meister werdet!“
Der Raban im Spiegel schaute mich an. Als würde er es genießen, wartete er, bis die Tränen wieder wie Taubeneier aus meinen Augen hervorkullerten.
„Die Wilden Kerle sind meine Freunde“, startete ich leise und heiser einen letzten Versuch.
„Ich weiß nicht, von was für einer Freundschaft du sprichst“, fuhr er mir über den Mund. „War der Schuss übers Tor, den Jojo verwandelt hätte, etwa ein Freundschaftsdienst? Oh, nein. Die Wilden Fußballkerle wollten heute gewinnen. Sie mussten gewinnen, damit sie den Winter überhaupt überstehen. Und jetzt werden sie von ihm erstickt. Los, schau aus dem Fenster und dann beantworte mir eine einzige Frage: Glaubst du, dass es die Wilden Kerle im nächsten Frühjahr noch gibt?“
Ich schaute zum Fenster. Doch ich hatte meine Coca-Cola-Glas-Brille nicht auf und konnte nichts sehen. Nichts als wabernde Nebelschwaden. Und als ich zurück zum Kleiderschrank sah, war auch der Spiegel verschwunden. Und mit ihm mein Spiegelbild.
Ich war allein.
November, Dezember
Die letzte Novemberwoche versackte in nasskaltem Schnee. Pausenlos fielen klebrige Zuckerwatteflocken auf die Erde hinab und beschränkten die Sicht auf fünf Meter. Die Straßen schäumten über. Dreckiger Schneematsch quoll aus ihnen heraus wie der Schaum aus der Badewanne eines zu dicken Schornsteinfegers.
In der Schule sprachen wir kaum noch ein Wort. Das heißt, die anderen redeten schon miteinander, aber ganz leise und immer mit dem Rücken zu mir. Auf jeden Fall glaubte ich das. Ja, und wenn ich sie fragte, ob sie nach der Schule Zeit für mich hätten, schüttelten sie alle den Kopf.
Leon hatte Schlagzeugunterricht, und Marlon musste Saxophon üben. Fabi ging zum Eishockeyspielen und Rocce mit seinem Vater zu den Bayern zum Training. Maxi wollte seine Fußballsammlung sortieren, Vanessa hatte Oma Schrecklich aus Pinneberg zu Besuch und wollte mit ihr den Schwergewichtsboxkampf im Fernsehen ansehen, Joschka und Juli gingen mit ihrem Vater ins Kino.
Ich glaubte ihnen kein Wort. Das klang wie Hippopotamusbullenpropellerschwanzmist und stank gewaltig zum Himmel! Wer macht schon jeden Tag immer dasselbe? Das frage ich euch. Selbst die Bayern haben mal frei. Jeden Tag Kino kann sich kaum einer leisten, und eine Oma Schrecklich hält man auch
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