Raban, der Held
nicht pausenlos aus.
Doch das traute ich mich nicht zu sagen. Nach dem Gespräch mit dem Spiegelgeist hatte ich von der Wahrheit genug. Ich wollte nicht hören, dass mich meine Freunde nicht mochten. Dass sie lieber allein sein wollten, anstatt bei mir zu sein. Ja, und deshalb beschloss auch ich, alleine zu bleiben. Ich hatte keine andere Wahl. Jojo, Markus und Deniz gingen auf andere Schulen. Ich hörte nie was von ihnen, und Felix war schon wochenlang krank.
Ich lag auf dem Boden in meinem Zimmer und starrte zur Decke hinauf. Draußen war es Mitte Dezember und inzwischen eiskalt. Der Schneematsch war seit Tagen gefroren, doch der Himmel war wieder blau.
,Felix! Verflixt!’, fiel es mir urplötzlich ein. Ihn konnte ich doch besuchen. Er hatte bestimmt nichts Besseres vor. Auf jeden Fall würde er mir nicht ausweichen oder vor mir weglaufen können. Er lag im Bett und war krank. Er würde mir zuhören müssen. Und dann würde er mich auch verstehen. Mit Sicherheit würde er das. Er würde verstehen, dass ich ein Wilder Kerl war und es bleiben wollte, und er würde begreifen, dass ich wollte, dass es die Wilden Kerle auch nach diesem Winter noch gab.
Ein paar Minuten später rannte ich aus dem Haus, sprang auf mein Fahrrad, das in der Toreinfahrt stand, und preschte auf den Gehweg hinaus.
In der Kurve schlidderte ich wie ein Speedwaymotorrad auf dem gefrorenen Matsch. Doch ich war gut. Ich schaffte die Kurve, und dann raste ich über den Bürgersteig direkt auf die Kreuzung zu.
„Allmächtiger Fettnäpfchenflaschengeist!“, schoss es mir durch den Kopf. „Der Obststand. Der Obsthändler! Wo steckt der denn bloß?“
Panisch sah ich mich um, jede Nanosekunde darauf gefasst, in einer Kiste mit Datteln oder Nüssen zu landen. Doch weder Obststand noch Lieferwagen, noch Obsthändler waren zu sehen.
Ich wollte und konnte es einfach nicht glauben, und selbst als ich an der Kreuzung abbiegen musste, blickte ich noch nach hinten zurück. Nein! Er war nicht da! Was hatte ich für ein Glück? Ich gab wieder Gas. Noch in der Kurve beschleunigte ich und schaute erleichtert nach vorn.
„Beelzebübischer Superpechvogel!“, schrie ich und trat sofort in die Bremsen.
Direkt vor mir wuchs der Stand des Obsthändlers urplötzlich aus dem Boden heraus, und obwohl sich das Profil meines Traktorhinterradreifens wie Spikes in das Eis hineingrub, flogen die Kisten mit den Nüssen, den Mandarinen und Datteln in Lichtgeschwindigkeit auf mich zu.
Kawumms und Karamba! Dann stand die Welt Kopf, wirbelte dreimal um mich herum und katapultierte mich direkt in die Hölle. Klebrig und braun war es da, bis ich mir die Datteln aus dem Gesicht herauswischte. Doch das war ein Fehler, denn jetzt sah ich ihn. Sein Kopf verdunkelte den Himmel und sein waberndes Gesicht verfestigte sich zu einem eiskalten Lächeln, als er mir die Brille auf die Nase zurückschob.
„Ich hab doch gesagt, dass ich dich krieg!“, sagte er mit einer so tonlosen Stimme, dass mir das Rückgrat gefror.
Dann ergriff seine baggerkrallenartige Hand mein armes Ohrläppchen und zog mich daran aus den Datteln, Mandarinen und Nüssen heraus.
„Und jetzt gehen wir beide zu deiner Mutter!“
„Pechschwefliges Rübenkraut!“, schimpfte ich. „Und Hippopotamusbullenpropellerschwanzmist! Das ist nicht fair! Hören Sie? Ich kann nichts dafür, wenn Sie sich jeden Tag woanders hinstellen! Und ich kann überhaupt nichts dafür, wenn Sie die Ladeklappe ihres Lieferwagens nicht schließen.“
Doch meine Mutter glaubte dem Obsthändler mehr. Wortlos stand sie auf der Galerie und schaute auf uns in der Halle herab. Der Obsthändler erzählte ihr alles. Während er mein Ohrläppchen auf die Länge von einem Meter vierzig dehnte und zog, erzählte er ihr das Schicksal jeder Kiwi, Orange, Mandarine und Dattel. Danach zückte meine Mutter den Füller, füllte einen Scheck aus und kam die Treppe herab. Ich musste mich dreimal entschuldigen, bevor es ohne „Potzblitz und Donnergeist!“ ging. Dann erhielt ich mein Todesurteil: „Ab jetzt wird alles ganz anders!“
Und dann, nachdem der Obsthändler seinen Scheck hatte und weg war, musste ich telefonieren.
„Hallo, ähm, ja, hier ist Raban. Ich meine Rabanovich“, würgte ich in den Hörer und schaute noch mal zu meiner Mutter. Ich flehte sie an. Das konnte sie von mir nicht verlangen. Doch meine Mutter war längst auf der Treppe. Sie wollte zu ihrer Arbeit zurück, und ihr Blick war Unbarmherzigkeit pur.
„Okay!
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