Rabenflüstern (German Edition)
wieder in dem steinernen Haupthaus ein. Ein Korb voll saftig schimmernder Äpfel würde ihnen das Zuhören versüßen. Die Geschichte wurde sogleich fortgesponnen, eingeleitet mit den Worten: »Wir nähern uns allmählich dem Ende …«
***
Kraehs Schlaf war traumlos. Manchmal stoben Gedanken wie Sternschnuppen an einem ansonsten leeren Firmament durch seinen Geist. Er glaubte, rauschende Wogen an einem Schiffsrumpf brechen zu hören, und ärgerte sich sogleich bei der Vorstellung, sich zum ersten Mal auf einer Reise zu befinden, an der er sich nicht erfreuen konnte. Doch dann verstummten die Geräusche auch schon wieder und er tauchte zurück in unendliche Schwärze. Außerstande, den zeitlichen Abstand zu ermessen, war das Nächste, was er wahrnahm, wie er durch die Luft getragen wurde. Ihm schwindelte und er hätte seinen Peinigern gerne gesagt, sie sollten ihn abstellen, aber seine Zunge gehorchte ihm ebenso wenig wie der Rest seines Körpers. Die allgegenwärtige Dunkelheit machte helleren, an Wüsten erinnernde Bilderfetzen Platz, wie er sie aus Erzählungen kannte. Schließlich schälten sich verzerrte Silhouetten aus der zuvor noch formlosen Umgebung. Stimmen waren zu vernehmen, die er nicht zuordnen konnte. Wären doch wenigstens die Münder scharf zu sehen, dann hätte er vielleicht von den Lippenbewegungen auf die Sprecher und das Gesagte zu schließen vermocht.
»Sag es noch einmal! Wem hast du davon erzählt?«
Die Antwort verstand er nicht, sie kam zu leise. Jedoch vermutete er ein bedrücktes Geständnis.
»Dein Bruder ist tot!«
Auch diesmal gelang es ihm nicht, die folgenden, gestammelten Laute sinnvoll zu verknüpfen. Zum Glück nahm die erste, womöglich auch eine andere Person, den Faden wieder auf.
»Im Traum?!«
Es wurde weitergeredet, doch die Kriegskrähe war nicht in der Lage, sich länger zu konzentrieren. Ein staubiger Geschmack breitete sich in Kraehs Mund aus und der einzige fassbare Gedanke war bald: Durst. Ein unstillbarer, alles andere auflösender Wunsch zu trinken bemächtigte sich seines ganzen Seins, bevor die wabernde Schwärze zurückkehrte und ihn erneut verschlang.
Plötzlich war alles anders. Röchelnd kam er zu sich. Eine Flüssigkeit war in seine Lungen geraten. Krampfhaft hustend spie er sie aus. Für einen Moment glaubte er, ertrinken zu müssen. Seine Arme und Beine schlugen Wasser, bis er merkte, dass er in einem seichten Becken lag, das ihm gerade einmal die Brust umspülte. Immer noch würgend fand er Halt und zog seinen Oberkörper halb aus dem Nass. Langsam kehrten die Farben und das Raumgefühl zurück, wie er da gekrümmt und seinen Händen umhertastend mit dem Gleichgewicht rang. Er befand sich in einer golden schimmernden, teichgroßen Wanne, die in einen jadesteinernen Boden eingelassen war, den das gleiche grün-weiße Muster wie die gewölbte Decke und die ausgehöhlten Wände zierte. Auf die kurz anhaltende Klarheit folgte eine abermalige Wahrnehmungseinschränkung: Nebelhafte Schlieren, wie jene, die den Styx umwoben hatten, zogen die Lichtkegel der sechs in einem Kreis um die Wanne herum aufgestellten Fackeln entlang. Schon befürchtete er, wieder in bodenloser Dunkelheit zu versinken, und wendete den Blick vom Grund des Beckens ab. Als er erneut hinsah, merkte er, obwohl er deutlich den harten Boden unter Schenkeln und Fersen spürte, dass die Augen nur einen erschreckend tiefen Abgrund fanden. Nach einer Weile fühlte er, wie die Kraft allmählich in seine Glieder zurückströmte und er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Sobald er sich dazu in der Lage fühlte, hievte er sich, die Handgelenke nun gezielt gegen den Beckenrand stemmend, auf die kühlen Steinplatten. Nun wurde er der Tür gewahr, die sich, unscheinbar in die merkwürdige Jade eingelassen, direkt vor ihm befand. Bevor er sie öffnete, drehte er noch einmal den Kopf. Erst jetzt bemerkte er den Riss, der sich, auf merkwürdige Weise Unheil verkündend, durch die Decke zog. Etwas überrascht, die Tür nicht abgeschlossen vorzufinden, trat er in einen ebenfalls von Fackeln erhellten Gang. Träumte er? Dumpf hallten die Schritte seiner nackten Füße nach. Bei der zehnten Fackel hielt er an und sah an sich hinab. Sein Körper war blass, aber ohne Wunden. Er betrachtete die zahlreichen Narben und, erinnerte sich an ihre Ursprünge; er rekonstruierte seine Lebensgeschichte, bis er wieder wusste, wer er eigentlich war. Allein der dichte Bart, der ihm
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