Rabenflüstern (German Edition)
Gefährten mehr als ungewiss war, verhehlte niemand seine Freude. Bis auf Lou. Erst als die Rufe abgeklungen, Heikhes Tränen getrocknet und alle Hände geschüttelt waren, kam sie auf den Krieger zu. Zwar zeigte sie ein Lächeln, aber es wirkte erzwungen. Einen Atemzug lang sah sie ihn aus ihren schwer zu deutenden, dunklen Augen an, ehe sie trocken verkündete, er werde von der Königin erwartet. Einstimmig beschlossen die Gruppe, dass sie das Wiedersehen später feiern und Kraeh zuerst Lou zur Königin folgen würde. Nur einer stellte sich hartnäckig quer. Egal was Lou für Gründe anführte, Sedain war nicht dazu zu bewegen, von der Seite seines Freundes zu weichen. Also willigte sie schließlich ein, dass er sie bis vor den Thronsaal begleiten dürfe. Seine Wut unterdrückend, trottete er schlecht gelaunt hinter den beiden her.
» Lousana also«, meinte der noch ein wenig schlaftrunkene Krieger auf dem Weg. »Gefällt mir besser.«
»Mir nicht«, sagte Sedain bissig, und die drei schwiegen eine Weile.
»Sei vorsichtig, was du sagst, Kraeh«, mahnte Lou, während dieser staunend die Umgebung inspizierte. Nachdem sie den Kuppelturm, dessen mittlerer Stock die Empfangshalle bildete, verlassen hatten, befanden sie sich nun auf einem schwindelerregend hohen Wehrgang, von dem aus sie einen Großteil der Anlage überblicken konnten. Insgesamt bestand sie aus drei ähnlichen Türmen, alle auf verschiedenen Ebenen durch Mauern und Treppen miteinander verbunden. Tief unter ihnen begrenzten diese einen Innenhof, der von einem Steinrondell dominiert wurde. Es lag kein Schnee. Er hatte immer noch nicht ganz verinnerlicht, wie lange er fort gewesen war, obgleich Sedain ihm ja alles dargelegt hatte.
»Immerhin hat sie veranlasst, mein Leben zu retten«, gab der Krieger zu bedenken. Der ungewohnte Bart war ihm immer noch lästig.
»Ja, das hat sie«, gestand Lou ihm zu, »aber nicht umsonst. Sie tut niemals etwas, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.« Nach einem unbehaglichen Schweigen, das Sedain gerade brechen wollte, fügte sie ihm zuvorkommend, hinzu: »Und niemals stand jemand so tief in ihrer Schuld wie du.«
Im Inneren des zweiten Turmes kamen sie vor einem gewaltigen Portal zum Stehen. Eine Freske, deren Wasser symbolisierende Ausläufer sich um den ganzen Rahmen wanden, wurde von einer besonders hervorgehobenen Triskele gekrönt. Ein altes Zeichen für Dreifaltigkeit, Ähnliches hatte Kraeh auch in der Nornenhöhle bemerkt.
Die vier Wachposten nahmen Haltung an, als sie Lou kommen sahen, gaben den Weg jedoch nicht frei. Erst als Lou Kraeh aufgefordert hatte, seine Waffen abzulegen, und er dem Gebot nachgekommen war, formten sie eine enge Gasse. »Geht nur«, schickte der Halbelf ihnen nach, »ich werde mich hier prächtig amüsieren.« Lou fand daran sichtlich nichts Komisches, überhörte ihn und schritt würdevoll durch die aufschwingende Pforte.
Vom ersten Augenblick an war Kraeh gebannt von der Präsenz der Drudenkönigin. Lou ließ ihn stehen und nahm zur Rechten des schlanken, silbernen Herrscherstuhls Aufstellung, hinter dem ein kolossaler, runder Spiegel angebracht war; der Krieger nahm sein Ebenbild jedoch kaum wahr. (Erst später erfuhr er den Zweck des Spiegels. Er sollte dazu dienen, dass Bittsteller beim Anblick der Herrscherin nicht ihre Identität und Absichten vergaßen.) Ebenso unwirklich wurden all die anderen Menschen in dem Raum, sie führten lediglich eine schattenhafte Existenz am Rande seines Sichtfeldes. Seine Aufmerksamkeit galt ganz und gar den dunkelblauen Seen unter den schwarzen, dünnen Brauen, in deren Untiefen er sich zu verlieren drohte. Ihre eng anliegende Krone, die zu beiden Seiten ihres ausgeprägten Kinns in spitze Enden auslief, glich in ihrer Funktionalität eher einem Helm. Das helle Haar quoll wie flüssiges Gold darunter hervor und bedeckte ihre für einen Frauenkörper breiten Schultern. Dessen entspannte Haltung – sie hatte die langen, in eng geschnürten, kniehohen Schnürstiefeln steckenden Beine übereinandergeschlagen und nur die obere Hälfte ihres Rückens berührte die Lehne – rührte nicht am natürlichen Stolz, den ihre ganze Erscheinung ausdrückte. Ein stählerner Brustpanzer, der einen Fingerbreit über ihrem Bauchnabel abschloss, zeigte mehr von ihren Formen, als er verhüllte. Ansonsten trug sie nichts außer einem kurzen weißen Rock, unter dessen faltenlosem Schlag Kraeh meinte ihre Scham erkennen zu können.
Der Anblick
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