Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
KAPITEL 25
Das Matrosenviertel versank im Nebel. Wenn Elsa in der Mitte einer Gasse stand, konnte sie die Häuser zu beiden Seiten nicht erkennen. Doch genauso wenig konnte sie selbst erkannt werden und das war gut. Sie brauchte einige Zeit, bis sie den Umgekippten Eimer fand, das Gasthaus, in dem Nikodemia früher gearbeitet hatte. So dicht war der Nebel, dass sie sich an den Fenstern entlangtasten musste, um die Tür zu finden. Doch die war verschlossen : Man hatte die Türgriffe mit einer Kette umwickelt, an der ein schweres Schloss baumelte. Einen anderen Eingang gab es nicht.
Die Gassen des Viertels waren – soweit Elsa es beurteilen konnte – menschenleer. Nur manchmal hörte sie ein Geräusch, dann klappte ein Fensterladen auf oder zu oder etwas wurde auf die Straße geschüttet. Manchmal schepperte es auch. Es war ein bisschen unheimlich. Fast wie im Dunkeln, nur dass die Dunkelheit hell und weiß war. Sie versuchte den Weg zu gehen, den sie vor Jahren in der Nacht mit Nikodemia vom Eimer bis zu einem Hauseingang zurückgelegt hatte. Das einzig Markante an diesem Hauseingang war die Tür gewesen, die jemand eingetreten hatte. Doch jetzt, nach mehr als zwei Jahren war die Tür bestimmt weniger eingetreten als damals. Dennoch strich Elsa an den Fassaden entlang auf der Suche nach einem Hinweis, den sie aber nicht fand. Erst jetzt merkte Elsa, wie müde sie war. Sie war die ganze Nacht geflogen und hatte keine Ahnung, wann sie das letzte Mal geschlafen hatte. Das musste noch in Istland gewesen sein.
Es lag nahe, sich als Katze in eine Ecke zu verkriechen und zu dösen, bis sie wacher geworden wäre und der Nebel sich lichtete. Doch sie konnte es nicht. Sie wollte unbedingt wissen, ob Nikodemia noch hier war. Dieser plötzliche Wunsch, ihn zu sehen, mochte damit zu tun haben, dass sie sich an zahlreiche Ehen mit ihm erinnern konnte. Streitigkeiten zwischen ihnen beiden zogen sich durch alle Leben, doch auch ein Gefühl der Verbundenheit. Diese vergangenen Leben sah sie mehr von außen als von innen, die meisten ihrer Gefühle und Taten waren ihr fremd. Nicht aber das Gefühl, dass sie Nikodemia vertrauen konnte.
Niko war schon immer mit den Altjas aneinandergeraten, in jedem Leben aufs Neue. Er stellte sich ihnen entgegen, mal mehr, mal weniger erfolgreich, und stets hielt ihn Elsa davon ab, die unvernünftigsten Dinge zu tun. Dabei vertrat sie die Ansichten der Altjas, beschwichtigte ihren Freund oder Mann, bat ihn, flehte ihn an, sich anzupassen. In jedem Leben war Nikodemia mit demselben, sonderbaren Talent ausgestattet: Er konnte sich grenzenlos im Zwischenraum bewegen, weit länger und geschickter als die Altjas. Er konnte den Zwischenraum erblühen lassen, mit ihm spielen, ihn zu seinem zweiten Leben machen. Manchmal kostete es ihn den Verstand, für Tage, für Wochen oder auch mal für den Rest seines Lebens. Dann konnte er Zwischenraum und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterscheiden.
Elsa hatte den Altjas immer geglaubt. Die Altjas hatten behauptet, dass sie sich um Nikodemias Seele sorgten. Dass er sie kaputt mache mit seinen langen Ausflügen in den Zwischenraum. Heute war Elsa viel misstrauischer. Sie wunderte sich darüber, dass sie fast nie am guten Willen der Altjas gezweifelt hatte. Selbst wenn Nikodemia sie anschrie und ihr begreiflich zu machen versuchte, dass die Altjas ihn klein halten wollten, dass sie ihn immer wieder in die Knie zwangen und von seinem eigentlichen Leben abhalten wollten, dann konnte sie ihm das nicht glauben. Die Altjas wussten es doch viel besser. Es gab kein wahres Leben für die Raben, sie konnten nur Altjas werden, irgendwann, wenn sie weise genug geworden wären.
„Weise genug?“, brüllte Nikodemia dann. „Wie soll das gehen? Wenn ich nichts herausfinden kann? Wenn ich wie ein ganz normaler Menschen leben muss, nur viel schlechter?“
„Das ist es ja“, betete sie die Reden der Altjas nach, „genau das musst du können, um ein Altja zu werden. Du musst vollkommen bescheiden werden und darfst nicht andauernd gegen die Gesetze verstoßen.“
„Was, wenn wir nie Altjas werden?“, fragte er. „Was, wenn das gar nicht vorgesehen ist?“
Elsa lehnte sich an eine Hauswand, starrte in das endlose Weiß vor sich und wunderte sich über ihre Einfältigkeit. Warum hatte sie es nie für möglich gehalten, dass er recht hatte? Sie erinnerte sich daran, wie er sie mitgenommen hatte in den Zwischenraum, fast in jedem Leben war sie mit ihm dort gewesen.
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