Rachekuss
aber nachdem sie schon eine Lerchen- und eine Buchfinkstraße entdeckt hatte, war sie guter Hoffnung, eine weitere Straße zu finden, die nach irgendeinem Vogel benannt war. Sie ging die Bischofsweiherstraße Richtung Norden entlang – ein gutes Stück weiter konnte sie rechts der Straße ein Wäldchen erspähen. Sie fror, nicht nur, weil der kalte Herbstwind um ihren nackten Kopf pfiff. Noch immer vergaß sie, eine Mütze mitzunehmen.
Die Straße lag wie ausgestorben da, sie wusste nicht genau, wohin sie führte. Kahl standen die Bäume gegen den weißlich grauen Novemberhimmel. In Brasilien war nun Hochsommer. Endlich entdeckte sie das nächste Straßenschild – Pirolweg. Flora atmete laut aus. War ein Pirol nicht so ein gelb-schwarzer Vogel? Ohne länger zu überlegen, schlug sie den Weg nach rechts ein. Ihr Blick fiel auf ein kleines Neubaugebiet mit großen Häusern, die von viel Grund umgeben waren. Auffällig viele schwarze Autos, die garantiert alle Vierradantrieb hatten, standen in diversen überdimensionierten Auffahrten. Beinahe erwartete sie, Gärtner hinter den Hecken hantieren zu sehen, so wie sie sich die reichen Familien in Rio leisteten. Gleich am zweiten Haus sprang ihr das Namensschild ins Auge: »Meyer« stand dort schlicht auf einem goldenen Schild. »Bauunternehmung« las sie in der Zeile darunter. Sie versuchte, zwischen den Zweigen der Berberitze hindurchzuspähen, konnte aber nur eine karge Rasenfläche entdecken, in deren Mitte ein riesiger weißer Springbrunnen aufragte, der um diese Jahreszeit den nahenden Winter verschlief.
Aber gegenüber, am Straßenrand, stand ein weißer Transporter.
Hoffnungsvoll ging sie weiter. Vielleicht konnte sie sich durch den Wald von hinten um die Häuser schleichen und hätte von dort bessere Sicht. Das Ende der Straße verschmälerte sich und wurde zum Fußweg. Sie lief nach rechts, bis sie vom asphaltierten Weg in den Wald gelangte. Der Boden war matschig und sie spürte ihre eiskalten Füße in den viel zu dünnen Turnschuhen. Trotzdem kämpfte sie sich vorwärts. Und dann – schräg hinter dem Meyer’schen Anwesen – leuchtete etwas Orangefarbenes durchs Gebüsch. Keine Frage – hier stand ein Bauwagen.
Instinktiv versuchte Flora, so leise wie möglich zu sein. Was wenn Arlindo erschrecken würde und davonlief, weil er meinte, die Polizei käme? Endlich stand sie direkt vor dem Wagen. Eine Amsel rief, ansonsten war es still und beinahe friedlich. Aus dem Wagen war nichts zu hören. Flora schlich darum herum, konnte aber durch das Fenster nichts sehen, da es mit einer blickdichten Folie beklebt war. Sie ging zur Rückseite und mit einem Mal hörte sie etwas. Ein schwaches Summen. Ganz leise. Als ob jemand eine Melodie mitsang. Flora hörte gespannt hin. Das Summen blieb.
Vorsichtig ging sie zur Tür zurück. Sollte sie anklopfen? Sie einfach aufreißen? Sie entschied sich für vorsichtiges Öffnen und war überrascht, dass die Tür tatsächlich nicht abgeschlossen war. Dämmriges Licht herrschte in dem kleinen, völlig überheizten Raum. Ein süßlicher Geruch schlug ihr entgegen, von dem Parfum, das Carina nur sehr selten benutzte. Und sofort spürte Flora wieder, wie ihre Füße über den Asphalt schleiften, wie sie in den Transporter gezerrt wurde, und dann sah sie tatsächlich Carinas Gesicht, das sich über sie beugte. Flora atmete hastig ein und aus. Viel zu schnell. Langsam, Flora, langsam, mahnte sie sich. Sie konzentrierte sich auf den Bauwagen, schob den Geruch fort aus ihrem Gehirn. Sie erkannte als Erstes eine schmale Liege, die auf der gegenüberliegenden Seite der Tür aufgestellt war. Und darauf lag eine Person. Sie war klein und zart. Sie trug nichts als eine Jeans und ein weißes Unterhemd. Sie hatte die Augen geschlossen und in ihren Ohren steckten Stöpsel von Kopfhörern, auf ihrer Brust lag ein iPod. Flora betrachtete Carina. Sie sah aus wie ein schlafender Engel, der von schönen Träumen liebkost hingebungsvoll lächelte. Nur die dunkelbraun verkrustete, dick geschwollene Wunde am rechten Mundwinkel störte das Bild. Der Piercing-Ring war verschwunden.
Flora spürte, wie mit einem Mal alle Gefühle in ihr erstarben. Ohne weiter nachzudenken, trat sie einen Schritt vor und riss Carina die Ohrstöpsel aus dem Ohr.
»Hey«, rief diese überrascht und setzte sich auf. »Was willst du hier? Hat die Polizei dich nicht verhaftet?« Flora lächelte kalt. Sie sah sich im Wagen um. Rechts von der Tür stand eingepfercht ein
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