Rachekuss
Meeressaum, besetzten die Bars. Sie hatte noch gut eine Stunde Zeit. Bis es dunkel wurde, bis Ana-Sophia sie abholen würde und sie an den Strand gehen würden in ihren weißen Kleidern.
Schon seit einigen Minuten starrte sie auf die glitzernde Scheibe in ihren Händen. Hatte den Zeigefinger in das Loch in der Mitte gesteckt und drehte die CD schneller und schneller. Das Silber reflektierte die Sonnenstrahlen. Fast wie ein Schmuckstück wirkte die Scheibe oder wie Weihnachtsbaumbehang.
Auf ihren nackten Beinen lag der Laptop. Es war nagelneu, ein Geschenk ihrer Eltern zu Weihnachten, mit lilafarbenem Deckel und rasend schnell, und selbst im Freien, bequem auf einem Liegestuhl ausgestreckt, konnte man den Bildschirm gut erkennen. Dank des Surfsticks war es möglich, hier draußen zu chatten. In der letzten Dreiviertelstunde hatte sie genauestens den atemberaubenden Ausblick beschrieben, der sich ihr von der Dachterrasse aus bot. Die Antworten dauerten lange und waren kurz. Flora wusste, welche Mühe es Yannik noch machte, die Computertastatur zu bedienen. Aber immerhin konnte er sie bedienen. Am liebsten gab er Zahlen ein. Zahlen, die dafür standen, in wie vielen Tagen, Stunden und Minuten Flora endlich zurückkommen würde. Er hoffte so sehr, dass er dann schon aufstehen und ihr entgegengehen konnte. Er trainierte täglich dafür und die Ärzte lobten ihn und sprachen von einem Wunder, dass er schon wieder so weit war. Seine sportliche Konstitution war wohl seine Rettung. Flora fuhr mit den Fingern zärtlich über das Foto, das als Bildschirmhintergrund diente und das er ihr heute geschickt hatte. Yannik in seinem Krankenbett, den Kopf bandagiert, aber die schönen grünbraunen Augen lebendig und voller Kraft wie immer. Wenn auch verspätet, war es ihr schönstes Weihnachtsgeschenk. Als sie ihn kurz vor ihrem Abflug endlich im Krankenhaus hatte besuchen dürfen, war er noch längst nicht so weit gewesen. Schwach hatte er den Druck ihrer Hand erwidern können und ein mattes Lächeln war über sein Gesicht gehuscht, als sie ihn geküsst und gestreichelt hatte. Sie seufzte und trank große Schlucke Orangensaft. Endlich legte sie die CD ins Laufwerk ein. Sie wusste, wen sie gleich sehen würde. Sie wusste immer noch nicht, ob sie es wollte. Auch nach fünf Tagen nicht. So lange hatte der braune, wattierte Umschlag jetzt auf ihrem Nachttisch gelegen.
Sie klickte auf das erste kleine schwarze Fenster, das sich auf der Desktop-Oberfläche geöffnet hatte, und der Film wurde gestartet. Erst war alles schwarz, man hörte Rauschen, einen Brummton, dann fiel Licht ins Objektiv, das Bild wackelte und schließlich wurde die Kamera auf einem Tisch oder Ähnlichem abgestellt. Im Bildausschnitt erschien ein blasses Gesicht mit rötlichbraunen Augenschatten, ungeschminkt, die rosa Strähne war abgeschnitten. Die Wunde, die der herausgerissene Piercing-Ring verursacht hatte, war beinahe verheilt. Eine deutliche Narbe würde bleiben. Die auf den ersten Blick einzig sichtbare. Carina räusperte sich. Ihre Augen brannten sich fest auf der Mattscheibe. Flora war unfähig, sich ihnen zu entziehen, obwohl das Gesicht selbst völlig ausdruckslos war. Man hatte Schwierigkeiten einzuordnen, ob man in das Gesicht eines Mädchens oder eines Jungen sah. In jedem Fall sah es schutzlos aus. Carina räusperte sich noch einmal, hüstelte. Versuchte zu lächeln. Flora spürte kaum, wie fest sie sich auf die Unterlippe biss.
»Hi. Flora«, sagte der sprechende Kopf auf dem Bildschirm. »Mach nicht gleich aus, okay?« Carina sah nach rechts und nach links, als suche sie etwas im Raum. Als vergewissere sie sich, allein zu sein mit ihrer Zuschauerin.
»Ich sollte wohl erst mal Danke sagen, dass du dir den Quatsch hier überhaupt anschaust. Ich könnte echt verstehen, wenn du es nicht wolltest. Tja.« Sie nickte bedächtig, machte eine Pause. Sah sich wieder um. Rutschte näher an die Kamera heran, sodass ihr Gesicht nun den gesamten Bildausschnitt einnahm.
»Ehrlich gesagt, mach ich das hier nicht nur für dich. Auch für dich, klar. Aber auch für mich. Meine Therapeutin meint, es sei gut, wenn ich so eine Art Tagebuch führe. Und weil ich im Quatschen schon immer besser war als im Schreiben, haben sie mir eine Videokamera gegeben. Nett, oder?« Sie verdrehte die Augen, die groß wirkten wie bei einem jungen Tier. Das Lächeln wurde schief.
»Tja«, sie dehnte das A sehr lang. »Was soll ich sagen. Ich bin hier noch in der geschlossenen
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