Rachel ist süß (German Edition)
Depressionen. In meiner kleinen Wohnung hatten sie es leicht, ihre schweren, trägen Gestalten hinter mir her in alle Räume zu schleppen, sie schwer seufzend auszufüllen und mich tief in Fernsehsessel, Küchenstühle und schäumende Badewannen zu drücken. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass ich draußen mit etwas gutem Willen immer irgendetwas entdecken konnte, das sie fürchteten. Manchmal war es eine Farbe oder ein Geräusch, es konnte ein Duft sein oder der Anblick eines Schokoladeneisbechers mit Schokoladensoße, Schokoladenstreuseln und Sahne. An diesem Tag aber gab es kein solch einfaches Entkommen, denn meine Lieblingseisdiele war noch für mindestens drei Monate geschlossen.
Es regnete zwar nicht, als ich am hügeligen Wald hinter dem Museum aus dem Bus stieg, aber der Himmel hatte diese schmutzige Novemberfarbe, die keinen Zweifel daran ließ, dass bösartige Wolken auf den richtigen Moment lauerten, um den Aggregatzustand zu wechseln und sich nieselnd, tröpfelnd oder strömend aus dem Himmel fallen zu lassen. Die Bäume starrten mich auf jedem neuen Weg blattlos an und der Waldboden hatte am Morgen eine Extraportion Eau de Verfall aufgelegt. Um mich herum kompostierten lustlose Würmer sterbende Blätter und unwirklich glänzende Käfer drängten sich frierend unter nassem Rindenmulch zusammen. Die Depressionen hatten keine Mühe, mit mir Schritt zu halten. Im Gegenteil. Ihnen gefiel es hier fast besser als zuhause. Dann begann es tatsächlich zu regnen, oder besser gesagt, es begann zu gießen. Ich war noch einen kurzen Moment tapfer und trotzte dem Niederschlag mit hochgezogener Kapuze, aber als ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie eine Gruppe Waldmäuse sich in Zweierreihen aufstellte, um vorsichtshalber in Richtung Arche zu wandern, erlosch mein schwach glühender Kampfgeist mit einem feuchten Zischen. Ich rannte los.
Als das alte Museumsgebäude hinter den dichten Regenschleiern auftauchte, war ich deutlich am Ende meiner Kondition angekommen. Im riesigen Foyer der ehemaligen Fabrikantenvilla schüttelten sich noch zwei weitere begossene Spaziergänger unter den missbilligenden Blicken des Personals das Regenwasser aus den Haaren. Meine Kapuze hatte dicht gehalten und auch die Regenjacke hatte, wie im Katalog beschrieben, das Regenwasser vollständig an sich abperlen lassen, ohne mein Hemd zu durchnässen. Nicht im Katalog hatte gestanden, dass das Abperlende der Jacke in der Mitte meiner Oberschenkel lag. Da meine Jeans keine ähnlichen wasserabweisenden Fähigkeiten besaß, waren beide Hosenbeine völlig durchnässt und klebten kalt und schwer an meiner Haut.
Ich zog die Jacke aus, stellte mich zu den anderen beiden Regenopfern an die beeindruckend große Heizung und sah mich um. Den Kassenbereich zierte ein großes Plakat, auf dem ich ohne Mühe einen liebevoll und detailliert gezeichneten Totenkopf erkennen konnte. Die Depressionen kicherten. Ich ging etwas näher heran, weil ich erstens den unruhigen Museumsmitarbeitern signalisieren wollte, dass ich nur zufällig nass, aber hauptsächlich kunstinteressiert war, und weil ich zweitens eine kleinere, freie Heizung in Plakatnähe entdeckt hatte. „Flämische Stillleben“ verkündete das Poster in geschnörkelten Lettern und kleinere Bilder am unteren Rand versprachen, dass es in dieser Ausstellung neben toten Köpfen auch tote Fische, tote Hasen, tote Rehe und verwelkende Schnittblumen zu sehen gab. Ich griff nass und niedergeschlagen nach dem Ansichtsexemplar des Katalogs, das sich auf einem Tischchen neben der Heizung langweilte, und blätterte mich durch die in Öl gebannte Sterblichkeit der Dinge.
„Das Licht der Kerze erlischt, der Docht lässt dünnen, transparenten Rauch aufsteigen. Auch der Tabak wird sich in der Tonpfeife auflösen. Selbst Geldmünzen und Schriftsätze unterliegen der Vergänglichkeit“, las ich den begeistert nickenden Depressionen mit leiser Stimme eine Bildunterschrift vor. Das Geräusch meiner Stimme erweckte die Kassiererin auf der anderen Seite der Heizung aus ihrer Starre und sie lächelte mich an. „Einmal? Irgendwelche Ermäßigungen?“ Ich schüttelte den Kopf, um klar zu machen, dass ich den schwermütigen Flamen auf keinen Fall noch näherkommen wollte, aber sie bezog meine Verneinung auf ihre zweite Frage und erklärte mich mit zwei schnell hintereinander gedrückten Tasten ihrer Kasse zu einer vollzahlenden Erwachsenen. „6,50 €, bitte!“ Sie reichte mir ein aufwändig
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