Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Garner Anderson gewesen sein. Ihn müssen wir unbedingt finden.«
Wagner nickte. Plötzlich tauchten Versatzstücke der Unterhaltung mit der Mutter des todkranken Kindes in seiner Erinnerung auf: ›Ich habe William … also Villy, meinen Exmann … kennengelernt‹. Die Worte bekamen auf einmal eine ganz andere Bedeutung. Natürlich!
»Sally Andersen. Wir müssen sie auf der Stelle sprechen. Holt sie her, wenn es nicht anders geht, aber versucht es erst am Telefon. Das muss jetzt sehr schnell gehen. Sie weiß, wo die beiden sind, ihr Freund und ihr Exmann, und mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit abrechnen.«
KAPITEL 79
Francesca lehnte sich in ihrem Sitz zurück, als das Flugzeug die Startbahn in Kopenhagen verließ und sich auf den Weg nach Rom machte.
Sie presste ihre Stirn gegen die Fensterscheibe und genoss den Anblick der Sonne und der klaren Luft. Sie hatte am Morgen den Fraktionsvorsitzenden angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie ihre Kandidatur zurückziehen werde. Ferner hatte sie ihm gesagt, dass sie sich auch nicht mehr für die Stadtratswahlen aufstellen lassen wollte und Pläne habe, nach Verbüßung ihrer Strafe Dänemark für immer zu verlassen. Sie hatte angekündigt, dass die Bombe am Sonntag platzen werde. Sowohl Dicte Svendsens Interview mit ihr als auch die Schmierenkampagne in der
NyhedsPosten
würden dann erscheinen. Das war ein perfektes Timing, wenn es sich schon nicht vermeiden ließ.
»Aber du stehst doch für etwaige Kommentare zur Verfügung?«, hatte er in den Hörer geprustet.
»Nein«, lautete ihre einfache und unzweideutige Antwort. »Alle Antworten werden in dem Artikel von Svendsen stehen. Und ich habe dem nichts hinzuzufügen. Keine weiteren Kommentare! Betrachte das als eine Art Vermächtnis, wenn du willst.«
Sie hatte sich für seine Unterstützung bedankt und das Handy ausgeschaltet, bevor er weitere Fragen stellen konnte. Das Mobiltelefon lag, ausgeschaltet, in ihrer Handtasche. Und das würde es auch die nächsten Tage bleiben, während sie gedachte, in der Sonne Kraft zu tanken.
Sie betrachtete die Schäfchenwolken und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, die sie die ganze Zeit vor sich hergeschoben hatte. Was war in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren geschehen? Wie viel bestimmte man eigentlich tatsächlich selbst über sein Leben? Und wie viel war davon beeinflusst, in welche Situation man geriet und welchen Menschen man auf seinem Weg begegnete?
Sie bereute nichts, darum ging es nicht. Als sie Jonas das Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte, war das die einzige Möglichkeit gewesen, die sie gehabt hatte. Es hatte keinen anderen Weg für sie beide gegeben. Aber hätte sie auch so gehandelt, wenn sie nicht William an ihrer Seite gehabt hätte? Er hatte ihr beigebracht, rücksichtslos zu handeln und diese Überzeugung in den Dienst einer höheren Sache zu stellen. Sie wusste aber, dass sie diese Erkenntnis niemals laut aussprechen durfte. Er hatte ihr viel Unsinniges beigebracht und ihr viel Schmerz und Erniedrigung zugefügt. Aber eines hatte sie von ihm gelernt: sich sein Dasein so zu gestalten, wie man es haben wollte und wie man es sich für andere wünschte. War das übergriffig? Ganz bestimmt. War es unzulässig? Auch das. Aber in seltenen Umständen – so wie mit Jonas – war es ihrer Überzeugung nach auch lebensnotwendig gewesen.
Das war ihr Pakt mit William, dachte sie, während das Flugzeug durch die Luft in Richtung Rom schoss. Sie hätte ihn schon vor Jahren in große Schwierigkeiten bringen können. Sie hätteschon während der Jahre in Haut de la Garenne und in Ry mit offenen Augen und Ohren herumlaufen können. Aber sie hatte sich entschieden, sich allem zu verschließen, weil sie die Wahrheit nicht hatte ertragen können. Und auch er hätte sie wegen ihrer letzten Liebestat für Jonas anzeigen können. Aber warum hätte er das tun sollen? Sie hatte immer gewusst, dass er es nicht tun würde. Schließlich war sie sein Lehrling gewesen. Außerdem hätte sie ihn im Gegenzug mit einem Fingerschnipsen zu Fall bringen können.
Liebte sie ihn noch? Sie hoffte nicht. Aber eines war sicher, er würde nie wieder Macht über sie haben. Die wenigen Minuten jedoch in seiner Nähe hatten ihr gezeigt, dass sie noch immer nicht immun gegen ihn war. Er hatte für alle Zeit einen Chip in sie eingepflanzt. Das war seine besondere Fähigkeit, die man je nach Temperament fürchten oder bewundern konnte.
Weder fürchtete sie noch bewunderte sie es, sie
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