Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Kein großer Fall, wie sie fand, aber immerhin einer, um den sie sich kümmern musste.
Sie streckte sich und sah gerade noch, wie die junge Frau die Treppe hinunterhuschte. Zorn stieg in ihr auf. Es war verachtenswert, eine junge verletzliche Frau für die reißerischen Zwecke einer Zeitung auszunutzen. Es war verachtenswert, Mai zum Reden zu bringen und sie dadurch womöglich selbst zu kompromittieren, weil ihr unter Umständen eine Anzeige wegen Sozialbetrugs drohte. Aber die Presse war sich eben selbst am nächsten. Dieses Spiel kannte sie nur allzu gut. Zufrieden spürte sie, wie sich ihr alter Starrsinn und Kampfgeist zurückmeldeten. Wenn sie Krieg haben wollten, konnten sie ihn haben. Sie würde nicht kampflos untergehen.
KAPITEL 16
»Huhu, Mama.«
Rose schlang die Arme um ihren Hals, und Dicte atmete ihre jugendliche Frische tief ein. Ihre Wange war kalt, feucht und glatt wie ein Sommerapfel. Auch der Geruch war so, der von Äpfeln und von Kindern, die erwachsen geworden waren, während man nur mal eben beim Bäcker Brötchen kaufen war.
»Es nieselt«, sagte die Studentin, die mit dem Taxi aus der Stadt gekommen war. Kein Busunternehmen hatte jemals den Gedanken daran verschwendet, in Kasted einen Halt einzurichten.
»Du hättest doch anrufen können, dann hätte ich dich abgeholt.«
»Es sollte eine Überraschung werden!«, sagte Rose und hob anstatt einer Friedenspfeife eine Tüte mit frischen Brötchen in die Luft. »Ihr könnt euren Samstagmorgen doch auch für etwas Sinnvolleres nutzen, als ihn in einem Auto zu verbringen.«
»Autos sind aber doch vielseitig anwendbar«, warf Bo als Begrüßung ein, während Dicte sich fragte, welche Erinnerungen aus einer hoffentlich weit zurückliegenden Vergangenheit da in ihm aufgestiegen waren.
»Hallo, du.«
Rose musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu umarmen. Sie gehörte nicht zu den langstieligen Wesen, mehr Garten als Gewächshaus. Dicte sah ihr hinterher, wie sie – dicht gefolgt von einem ununterbrochen sabbernden Svendsen – ihre Tasche in den Flur warf und ins Wohnzimmer ging. Rose war anders und mehr als alles. Sie war auch ein Mädchen, das viele Geheimnisse hatte, die sich nicht nur um Partys und Freunde drehten. Hier ging es um das Gefühl, einen großen Bruder vorenthalten bekommen zu haben. Und es gab nur eine einzige Person, der man das vorwerfen konnte, und das war ihre Mutter.
Bei Kaffee und Brötchen fragte sich Dicte, wie sie das Thema geschickt ansprechen konnte. Nach dem Besuch in Ida Maries Reisebüro hatte sie gleich ein Facebook-Profil angelegt. Haufenweise Freunde hatten sich sofort gemeldet, aber weder Rose noch Peter Andreas Dorn hatten angebissen.
Sie hatten den Frühstückstisch in großer Harmonie gedeckt, aber unterschwellig war eine Stimmung zu spüren, die niemand von ihnen so richtig unter Kontrolle hatte.
»Was verschlägt dich denn in die langweilige Provinz?«, wollte Bo wissen, bevor er herzhaft in sein Brötchen biss. »Hast du uns wirklich so sehr vermisst?«
»Ganz enorm.«
Rose, die nicht aussah, als hätte sie irgendjemanden außer Svendsen vermisst, schnitt ihr Brötchen in zwei Teile.
»Nein, Spaß beiseite. Heute Abend feiert eine ehemalige Klassenkameradin eine Party.«
»Wer?«
Die Frage war gestellt, bevor Dicte darüber nachgedacht hatte. Darum warf ihr Rose auch einen Blick zu, den man viel zu wissbegierigenMüttern schenkt. Ihre Antwort war eine Gegenfrage.
»Und wie geht es euch beiden Alten? Sitzt ihr jeden Abend vor dem Kamin, spielt Schach, trinkt Whiskey und geht früh mit warmen Socken und Flanellschlafanzug ins Bett?«
Bo grinste und erwiderte etwas, das total jugendlich klang und die Worte
endgeil
und
downturner
beinhaltete. Rose spielte geduldig mit. Aber Dicte konnte nichts machen, wenn sie auch nur mit mehr als einem Gedankenstrich ihre Bedenken andeuten würde, wäre das kleine bisschen Vertrauen, das sie mit ihrer Tochter verband, auf der Stelle zerstört. Sie betrachtete Rose, die schmal und artig auf ihrem Stuhl saß und den Kaffeebecher mit beiden Händen hielt. Die organisierte, vernünftige Rose, deren Auflehnung sehr spät kam, dafür aber vielleicht umso heftiger war. Genau genommen waren die Spannungen zwischen ihnen eigentlich erst entstanden, seit sie das erste Mal über Peter Boutrup gesprochen hatten. So war er in ihr Leben eingedrungen.
»Und was ist mit Aziz? Alles in Ordnung?«
Bo hatte diese Frage gestellt. Da er nicht Roses leiblicher Vater war,
Weitere Kostenlose Bücher