Radegunde von Thueringen
in der Nähe von Nablis. Um herauszufinden, wer ich war, beschloss ich, die große Königin Radegunde aufzusuchen, die meinen Begleitbrief persönlich unterzeichnet und gesiegelt hatte. Du glaubst nicht, welch eine Wirkung dieser Brief auf die Menschen hatte!“ Er hielt inne und trank einen großen Schluck aus seinem Bierkrug. Das Mädchen an seiner Seite kaute an einem Honigkuchen und hörte ihm gespannt zu.
Radegunde musste den Blick mit Gewalt von Gisos entstelltem Gesicht wenden und betrachtete das Kind. Ihre Gesichtszüge kamen ihr merkwürdig vertraut vor, und doch hätte sie nicht sagen können, wem sie ähnelte. Die hellblauen Augen, die so merkwürdig schmal waren …
Giso räusperte sich und fuhr fort: „Du wirst überall wie eine Heilige verehrt, sowohl in Thüringen als auch im ursprünglichen Frankenreich. Fahrende Sänger erzählen Geschichten, wie du den gewalttätigen König Chlothar zähmtest, wie du Menschen von der Pest geheilt und die Ketten von Gefangenen durch ein Gebet gesprengt hast.“
Radegunde rutschte unbehaglich auf ihrer Bank umher. „Wie hast du dein Gedächtnis wiedergefunden?“, versuchte sie, das Gespräch erneut auf Giso zu lenken.
„Auf dem Weg nach Saix, wo ich dich zu suchen gedachte, nahm ich Unterkunft in Orléans. In der Herberge sprach mich eine Sklavin an, klein und zart, schmale Augen, schwarz wie die Nacht. Sie hatte mich erkannt. Von ihr erfuhr ich, wer ich tatsächlich bin. Auch sie war auf dem Weg zu dir und wir beschlossen, gemeinsam weiterzureisen.“
„Salomé?“ Radegunde spürte, wie ihre Kehle eng wurde.
Giso nickte.
„Wie geht es ihr? Wo ist sie?“
Giso senkte den Kopf. „Bevor wir auf das Schiff gingen, das uns nach Tours bringen sollte, wurden wir von Straßenräubern überfallen. Ich wehrte mich nach Kräften, aber sie waren im Dutzend. Ich hatte keine Chance. Aziza gelang es, unter ein umgekipptes Boot zu kriechen. Sie haben sie nicht gefunden. Einer von ihnen zog mir sein Halbschwert über das Gesicht. Salomé …“ Er schwieg. „… sie starb wenig später in meinen Armen.“
Das Mädchen weinte lautlos.
Plötzlich ordneten sich Radegundes durcheinanderwirbelnde Gedanken von ganz allein. „Aziza, du bist – Salomés Tochter?!“ Die schmalen Augen, der maurische Einschlag der Mutter. Ihre Haut schien trotz des Winters leicht getönt, doch hatte sie mehr Ähnlichkeit mit Chlothar: sein blondes Haar, die hellen Augen.
„Sie spricht nicht, seit sie zugesehen hat, wie …“ Giso stöhnte und betastete vorsichtig sein verletztes Auge.
Agnes stand auf. „Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass wir unsere verwerfliche Neugier vergessen und uns um die Wunde kümmern. Dann schaffen wir es gerade noch rechtzeitig zur Mitternachtsmesse.“
„Es ist besser, Bischof Maroveus erfährt nichts von unseren Gästen. Wir wollen ihn nicht schon wieder verärgern.“ Auch Radegunde erhob sich. Sie strich dem Mädchen mitfühlend über das Haar. „Sie wird bei uns bleiben, nicht wahr?“
Giso nickte, während Agnes eine Schüssel Wasser und Verbandszeug auf den Tisch stellte. „Salomé wollte sie in deine Obhut geben. Sie selbst wollte hier in der Nähe bleiben, vielleicht in Saix oder direkt in Poitiers. Sie sagte, sie hätte einen Teil des Schmuckes bei sich, den du ihr für die Aussteuer der Zwillinge überlassen hattest. Ich glaube, auf den hatten es die Straßenräuber abgesehen.“
Zum ersten Mal reagierte das Mädchen. Aus einer versteckten Naht an der Taille ihres Gewandes zog sie eine goldene Schulterfibel mit Mosaikeinlagen hervor und legte sie wortlos auf den Tisch. Giso bekam große Augen. „Du liebe Güte, mit diesem wertvollen Stück hätten wir in der Sänfte bis hierher reisen können!“
„Chlothar schenkte sie mir zur Hochzeit. Es waren zwei, vollkommen gleich.“ Sie sah das Mädchen nachdenklich an und fügte hinzu: „Wie Zwillinge.“
„Was ist mit ihrem Bruder?“ Agnes begann, die brandige Wunde mit Kamillensud zu waschen.
Giso legte den Kopf zurück und stöhnte. „Er lebt in Soisson“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Salomé hat ihn mit der Hälfte des Schmuckes in eine Goldschmiedewerkstatt eingekauft. Sie sagte, der Junge sei nicht besonders kräftig, aber er habe geschickte Hände. Au! Beim Wodan! Was tust du da? Das brennt wie Feuer!“
„Dein Auge sieht nicht gut aus!“ Agnes schüttelte besorgt den Kopf. Radegunde trat näher. Unter den geschwollenen Augenlidern fand sich statt eines
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