Radio Heimat
plötzlich ein »Schutzmann« bei uns vor der Tür und wir wurden im Schlafanzug evakuiert. Das war noch spannender als der Raum im Raum.
Die Wohnung befand sich übrigens direkt neben dem alten Glockenturm des Rathauses, der Viertelstunden im Westminster-Schlag verkündete und zu jeder vollen Stunde ein Lied spielte. Bei der Tagesschau verpassten wir so immer die wichtigsten Nachrichten, weil wir Karl-Heinz Kopeke nicht verstehen konnten.
Als ich älter wurde, nutzte ich vor allem die handfesten Vorteile, die das Leben im Rathaus bot. Bis 1985, als meine Großeltern dort auszogen, musste ich kein Blatt Papier käuflich erwerben. Auch Schreibtische, Aktenschränke und Bürostühle wurden »organisiert«, eine Mentalität, die sich zum einen aus der harten Zeit nach dem Kriege speiste, zum anderen aus der Tatsache, dass die öffentliche Hand, verglichen mit heute, einfach ziemlich gut bei Kasse war.
Und als Omma dann auch noch Abteilungsleiterin der Telefonvermittlung wurde, wurde es noch besser. 1982 ging meine erste große Liebe für ein Jahr in die USA, aber wer über so exzellente Verbindungen verfügte wie ich, der musste den Kontakt nicht abreißen lassen. Alle paar Wochen fand ich mich am Samstag oder Sonntag bei Omma ein und telefonierte eine halbe oder eine ganze Stunde mit Sugar Grove in Illinois. Nun wurden aber sämtliche Gespräche zentral registriert. In einem der Telefonvermittlung angegliederten Raum voller Schränke mit Relais und geheimnisvollen Schaltungen kam aus einem Gerät ein langer, breiter Streifen Papier, auf dem zu lesen war, welche Nebenstelle welche Nummer angerufen hatte und wie lange das Gespräch gedauert hatte. Jede Gebühreneinheit ergab eine Zeile. Hatte ich zu Ende gesäuselt, ging ich mit Omma rüber in die Vermittlung, und Omma schnitt einfach einen halben Meter Papier ab und tilgte so die Spur meines Tuns. Ihre offizielle Erklärung lautete: »Ich kann mir das auch nicht erklären, alle paar Wochen reißt da das Papier, weiß der Geier, wieso!«
Meine Omma war stets im ganzen Rathaus, bei allen Dienststellen sehr beliebt. Heute würde man sie als »Netzwerkerin« bezeichnen. Damals hieß es nur: »Ich kenne jeden, jeder kennt mich!« Und so nimmt es nicht wunder, dass Ommas Verabschiedung aus dem Dienst Anlass für ein regelrechtes Gelage war. Ohne ins Detail gehen zu wollen, möchte ich nur festhalten, dass, als ich mittags um halb zwei nach der Schule zur Feier stieß, um beim Bierzapfen zu helfen, das erste Fünfzigliterfass rausgerollt wurde. Leer. Dienstbeginn war um acht gewesen, und in fünfeinhalb Stunden schafft man schon mal ordentlich was weg.
Als das Bochumer Rathaus im Jahre 2006 sein 75-jähriges Jubiläum feierte, war meine Omma als Ehrengast geladen. Zusammen mit einem Fernsehteam suchten wir die Räume auf, in denen früher die Wohnung von Omma und Oppa untergebracht gewesen war. Ich kam mir vor wie in der Fernsehserie »Time Tunnel«. Zwar wirkten die Räume naturgemäß sehr viel kleiner als in meiner Erinnerung, auch waren Schlaf- und Wohnzimmer ein wenig umgestaltet und mit einem Durchbruch versehen worden, doch in der ehemaligen Küche lag tatsächlich noch der PVC-Belag, den Omma und Oppa dort Anfang der Siebziger hatten verlegen lassen.
Ommas Kommentar: »Der is auch teuer genuch gewesen. Is klar, datt der sich hält!«
Geradezu gespenstisch aber war es, das Badezimmer zu betreten. Hier waren noch dieselben gelben Kacheln wie damals an der Wand, auf einigen noch immer die Prilblumen, die ich höchstselbst als Kind dort angebracht hatte! Im Toilettenbereich bogen sich Plastikfliesen aus den Fünfzigern von der Wand, auf der Holzverblendung der Rohre hinter der Kloschüssel klebte noch die Folie mit Blumenmuster, die Omma dort angebracht hatte. Neben der Tür der Garderobenhaken, an dem in der guten alten Zeit immer Oppas gestreifter Bademantel gehangen hatte. Aber komplett zerrissen hat mich der Anblick des Waschbeckens, über dem noch Oppas orangefarbener Rasiererhalter aus den Siebzigern hing. Nur die auf Füßen stehende Badewanne war herausgerissen und durch einen Kopierer ersetzt worden.
»Ich würd hier sofort wieder einziehn«, meinte Omma.
Ich auch.
Ostern
Zu Geburtstagen und hohen Feiertagen rottete sich auch meine Familie rituell zusammen. Ostern zum Beispiel war eine prima Sache, konnte aber definitiv nicht mit Weihnachten mithalten. Es gab zwar ähnlich viele Feiertage, aber die Ausbeute war eindeutig geringer. Außerdem musste
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