Radio Heimat
Rathausplatz. Omma, Oppa und Mama verfolgten das Spektakel von einem Flurfenster im ersten Stock. Meine Mutter hatte sich ein Fenster allein gesichert, mit ein paar Metern Abstand zu ihren Erzeugern. Und gerade als es hieß »Hut ab zum Gebet«, leerte Muttern einen riesigen Sack Konfetti über den Häuptern der feierlich Innehaltenden aus. Den Sack hatte sie sich in der Stadtdruckerei besorgt, die seinerzeit praktischerweise im gleichen Stockwerk untergebracht war wie die Wohnung von Omma und Oppa. Der Wind trug die Papierschnipsel über den ganzen Platz, der Blick des Oberbürgermeisters ging erst zum Himmel und fand dann den meines Oppas, der erst langsam begriff. Meine Omma war etwas schneller gewesen und hatte schon angefangen sich kaputtzulachen. »Da war ich gerne selber drauf gekommen!«, vertraute sie mir zwanzig Jahre später an.
Meine Mutter war noch mit Mitte vierzig stolz auf diese Aktion. »Aber ich konnte drei Tage nicht sitzen!«, gab sie zu Protokoll.
Es gab nichts, was Omma im Rathaus nicht besorgen konnte. Zum Beispiel einen Telefonhörer, mit dem ich so gerne spielte, dass man ihn mir sogar in den Kinderwagen legte. Als sich einmal bei einem Stadtspaziergang ein Bekannter über mich beugte und Heititei machte, war er nicht wenig verblüfft: »Dat gibbet doch nich! Dat Blach hat Telefon im Kinderwagen!«
Um ein Haar hätte ich im Bochumer Rathaus schon im Alter von achtzehn Monaten mein junges Leben ausgehaucht. Ende der Sechziger war es durchaus nicht unüblich, Kinder im Bett mit einem Gurtsystem zu fixieren, damit sie nicht herausfielen. Nun hatte mich meine Mutter eines Mittags im großelterlichen Schlafzimmer ins Kinderbett gelegt und dort festgemacht. Als sie kurz darauf mit Omma in der Küche saß und ich wie am Spieß zu schreien begann, hieß es erst: »Ach, der will nur nicht schlafen, der ist immer so unruhig!« Als das Geschrei jedoch nicht nachlassen wollte, wurde es meinem Oppa irgendwann zu bunt beziehungsweise zu laut. Er ging nachsehen und stellte fest, dass ich gerade dabei war, mich zu strangulieren, das Gesicht schon puterrot. Mein Oppa tat darauf hin zweierlei: Zum einen holte er aus der Küche ein Brotmesser und schnitt dieses Gurtsystem durch. Dann legte er in aller Ruhe das Brotmesser zurück in die Besteckschublade, ging zu meiner Mutter und haute ihr zum letzten Mal in ihrem Leben eine runter.
Mittagsschlaf hielt ich schon immer für Zeitverschwendung, wurde aber lange Zeit dazu gezwungen, weshalb ich für diese gar nicht blaue Stunde nach Möglichkeiten suchte, mir die Zeit zu vertreiben. Und so kam es, dass ich, als ich mal wieder bei Omma und Oppa im Schlafzimmer nach dem Mittagessen ruhen sollte, dieser schönen, großen Dose Pena-tencreme ansichtig wurde, die auf Ommas Nachttisch stand. Als meine Mutter nach Ablauf der vorgeschriebenen Ruhezeit wieder ins Schlafzimmer kam, hatte ich das aus dunkler Eiche gezimmerte Ehebett flächendeckend mit Penaten-creme verschönert und war dann, von der Arbeit ermattet, mit verschmierten Händen eingeschlafen. Omma lachte sich nicht nur kaputt, sondern war auch noch stolz darauf, was ihr Enkel zu leisten imstande war: »Das ist doch eine Heidenarbeit! Mit so kleine Hände! Der wird bestimmt mal Anstreicher!«
Als ich aus dem Kleinkindalter heraus war, übernachtete ich vor allem an den Wochenenden bei Omma und Oppa, weil meine Eltern gerade mal Mitte, Ende zwanzig waren und das taten, was ich später in diesem Alter auch tat: das Leben und die Liebe feiern. Am meisten interessierte ich mich für die Katakomben des Rathauses. Der Heizungskeller, das Revier meines Oppas, hatte es mir besonders angetan. Wir fuhren mit dem Lastenaufzug in den Keller, gingen durch zwei Türen, und dann konnte man durch ein Gitter in den mich als Knirps riesig anmutenden Heizungsraum mit den ebenfalls riesigen Kesseln blicken. So ungefähr musste es im Maschinenraum eines Raumschiffs aussehen, war ich mir sicher. Das Tollste aber war eine kleine Werkstatt, die in den riesigen Raum hineingebaut worden war, vier Wände, ein Dach, alles da. Ein Raum im Raum! Die Welt war voller Wunder!
In den bewegten Siebzigern waren die Bombendrohungen das Lustigste. Alle paar Monate rief irgendein Scherzbold oder auch ein Sympathisant der RAF bei der Polizei an und behauptete, im Bochumer Rathaus sei eine Bombe versteckt. Das geschah gern auch mitten in der Nacht, wenn die Sympathisanten sich für die Weltrevolution fit soffen und übermütig wurden. Dann stand
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