Radio Heimat
Stuhl festhalten. »Manchmal denke ich, ich hab die Zähne alle schon mal gesehen! Wirklich! Ich kenne die alle! Die Leute machen den Mund auf und ich denke: Euch hab ich doch schon mal gesehen! Nicht zu fassen!« Mühsam reißt er sich zusammen. »Entschuldigen Sie bitte!« Er verlässt den Raum. Seine Assistentin legt beruhigend eine Hand auf meinen Arm. Nebenan hört man den Doc schallend lachen und auf irgendwas eindreschen. Er kommt zurück. »So jetzt geht's. Wirkt die Betäubung? Ja? Na, fangen wir trotzdem an!«
Wie angekündigt wird jetzt erst mal gebohrt. In meinem Schädel breitet sich ein Geräusch aus, wie wenn man mit einem rostigen Nagel über eine Schiefertafel kratzt, nur viel schlimmer. Zwischendurch sagt der Doc Herrlich!, Großartig! und Wunderbar!
»Klingt fies«, merke ich an, als ich mir mal den Mund ausspülen darf.
»Das ist Musik in meinen Ohren!«, schwärmt der Doc.
»Na, Sie sehen doch bestimmt einmal die Woche den Marathon-Mann, was?«
»Ach, es gibt einfach so wenig gute Zahnarzt-Filme!« Richtig traurig ist er jetzt. »Obwohl, ein Kollege hat mir mal einen empfohlen. Amerikanische Ware. Echter Schocker:
Der Den
tist
,
zwei Teile. Hatte aber noch nicht das Vergnügen.« Und er erzählt mir, dass manche seiner Kollegen versteckte Kameras in ihren Behandlungsräumen installiert haben und die Filme dann in extra abgeschotteten Internet-Foren kursieren lassen. »Äh, das hab ich jedenfalls gehört, hähä!«
Ganz nebenbei stellt sich heraus, dass bei mir eine Füllung gebrochen ist. Ich könnte eine neue kriegen, aber das wäre nur der halbe Spaß, sagt der Doc. Er empfehle, gleich reinen Tisch beziehungsweise Zahn zu machen und in einer ausgedehnten Wurzelkanalbehandlung den Nerv zu killen. »Dens rasa, wie der Lateiner sagt. Da spüren Sie dann gar nix mehr. Und Sie haben es doch nicht so mit Schmerz. Es hätte auch den Vorteil, dass der Zahn dann nicht mehr versorgt würde, porös wird und abbrechen kann. Hat auch was!«
»Doc«, sage ich, »wenn ich Ihnen eine Freude machen kann...«
»Großartig. Aber dafür wollen wir uns Zeit nehmen. Die schönen Dinge im Leben soll man genießen. Ich mach Ihnen da jetzt was Provisorisches rein, und dann kommen Sie nächste Woche wieder. Kleiner Tipp: Kaugummi, Storck-Riesen oder Nappo! Das sind so richtige Plombenzieher, und man erhält ein ganz famoses Schmerzgemälde. Also, wenn Sie sich mal was gönnen wollen ...«
Ich gehe raus, eine Frau mittleren Alters geht hinein. »Ah, da issie ja!«, wird sie vom Doc voll der freudigen Erwartung begrüßt. »Manchmal frage ich mich, wieso ihr alle immer wiederkommt! Okay, ihr wollt es nicht anders. Wissen Sie, manchmal mein ich, ich hab die Zähne alle schon mal gesehen. Ehrlich, die Leute machen den Mund auf und ich denke: Euch kenn ich doch, ihr Brüder! Betäubung? Tut mir leid, der Kollege, der vor Ihnen dran war, hat alles verbraucht. Kleiner Scherz. Haha! Und wenn ich mir das so ansehe, kann ich nur sagen: Schlussverkauf! Alles muss raus! Wie? Ach was, es gibt so schöne Schnabeltassen...«
Ich finde, zehn Euro sind für diese Show wirklich nicht zu viel.
Schwiegermutter
Ich führe ja eine glückliche Mischehe, will sagen: Meine Frau kommt nicht bei uns ausse Gegend, sondern aus Bayern, genauer gesagt aus Franken. Das hat zur Folge, dass bisweilen meine Schwiegermutter bei uns nach dem Rechten sieht. Denn sie macht sich Sorgen.
Man fühlt sich ja nie so sehr seiner Heimat zugehörig, wie wenn jemand von außen draufguckt und sagt, was er davon hält. Geboren und aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Erlangen, ist sie mittlerweile der Liebe wegen wohnhaft in Burghausen an der österreichischen Grenze. Als ihre Tochter ihr 1998 mitteilte, dass sie einen Mann aus Bochum kennengelernt habe und beabsichtige, ebendort mit ihm zu leben, dachte sie spontan an einen schweren Fall des Patty-Hearst- oder Stockholm-Syndroms: Ein finsterer Typ mit Grubenlampe an der Stirn hatte ihre Tochter gekidnappt, und diese hatte sich nicht nur in ihr Schicksal ergeben, sondern redete sich auch noch ein, sie bleibe freiwillig bei ihm. Okay, das umschreibt ziemlich genau meine Flirt- und Anbahnungsstrategien, aber nach einiger Zeit wirkte meine Frau sehr glaubhaft. Das musste auch meine Schwiegermutter zugeben.
Doch Zweifel blieben. Tatsächlich gehört sie zu den Menschen, die sich zirka 1955 ein Bild vom Ruhrgebiet gemacht haben und danach mehr als vierzig Jahre lang keine Veranlassung sahen,
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