Radio Heimat
daran Korrekturen vorzunehmen. Als sie zum ersten Mal zu uns kam, fiel wirklich der Satz, den ich am meisten hasse, wenn es um unsere Gegend geht: »Ihr habt aber viel Grün hier!« Es dauerte drei Jahre, bis Schwiegermutter endlich darauf verzichtete, zu ihren Besuchen einen ganzen Kofferraum voller Lebensmittel mitzubringen. Hätte sie eine Uniform getragen und zusätzlich Kaugummi und Lucky Strikes verteilt, hätte ich das Gefühl gehabt, sie habe mich auch noch vom Faschismus befreit.
Ich habe dann den Fehler gemacht, sie in den letzten Jahren hier in der Gegend herumzuführen und mit den Leistungen der Vorväter zu prahlen. Schau mal, der Landschaftspark Meiderich Nord - ist der Hochofen nicht beeindruckend? Und die Kokerei Zollverein! Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was in einer Kokerei gemacht wird beziehungsweise gemacht
wurde,
aber sieht das nicht großartig aus? Und guck dir unsere Fußballstadien an: Hier bedeutet Fußball noch richtig was! Hast du übrigens gewusst, dass Gelsenkirchen eine höhere Arbeitslosenquote hat als viele ostdeutsche Städte? Wir müssen hier ernsthaft Kredite aufnehmen, um den Soli überweisen zu können! Aber ist der Gasometer in Oberhausen nicht absolut umwerfend? Kannst du dir vorstellen, dass allein in Oberhausen früher 120000 Menschen im Stahl beschäftigt waren und heute kein einziger mehr? Eigentlich müssten das doch hier alles Slums sein. Haben wir das nicht toll hingekriegt mit dem Strukturwandel? Wir sind natürlich noch nicht fertig, wir werden nie fertig sein, aber weißt du eigentlich, dass die Geschichte der Solarenergie ohne Gelsenkirchen gar nicht möglich wäre? Das sind Zukunftsmärkte, die gehören uns, und wirklich, wir haben hier früher verdammt hart gearbeitet!
Die Seitenblicke, die meine Schwiegermutter mir bei diesen Gelegenheiten zuwarf, waren nicht anders denn als »spöttisch« zu bezeichnen. Du? Gearbeitet? Das hätte ich gerne gesehen.
Ihre Skepsis ventiliert sie nicht in Worten, sondern nonverbal, also klassisch passiv-aggressiv. Ihre Besuche gehen noch heute meistens so vonstatten:
Kaum angekommen, senkt sie, noch vor der Begrüßung ihrer Enkel, ihre Hände in die Erde unseres Gartens und ertastet den Reifegrad der beim letzten Mal gepflanzten Tulpenzwiebeln. Während des Begrüßungskaffees werden die Beete frisch gemulcht, die Rosen beschnitten sowie der geilwuchernde Efeu an der Mauer im hinteren Teil durch bloßes Anschreien zum Rückzug gezwungen. Später kocht sie uns ein Essen, von dem wir noch zwei Wochen zehren und jeden Tag mindestens drei befreundete Paare bewirten können.
Während des Essens wischt sie Staub unter dem Sofa, weil ja am nächsten Morgen unsere Putzfrau kommt, und wie sieht das denn aus, wenn das Haus dann nicht sauber ist. Da Nachtruhe was für Waschweiber ist, repariert sie bis zum Morgengrauen noch den kaputten Trockner, entwickelt für meine Bibliothek endlich mal sinnvolle Ordnungskriterien und nimmt sich dann die pfeifende Heizungsanlage vor.
Stehen größere Umbauten an, wie das Einziehen einer neuen Wand oder die Verlegung eines neuen Bodens, überlassen wir ihr das Haus komplett und gehen Leute ärgern, die nicht so viel Glück haben.
Hätten wir in diesem Land mehr Frauen wie meine Schwiegermutter, könnten wir Männer endlich die Kinder kriegen.
Unterhaltung am Wochenende
Wieder voll da!
Wer unter der Woche hart arbeitet, der verschafft sich am Wochenende Ablenkung und Entspannung. Früher ging das nur in der Kneipe. Zum Beispiel beim Frühschoppen, wo es die Männer meiner Familie sonntags vor dem Mittagessen hinzog.
Mein Oppa mütterlicherseits suchte eine Gaststätte in der Nähe des Rathauses auf, deren offiziellen Namen ich vergessen habe. Mein Oppa nannte sie nur nach dem Namen des Betreibers, nämlich »Hasselkuss«. Vielleicht hieß es auch einfach nur »Haus Hasselkuss«, denn originelle Namen für Kneipen kamen erst sehr viel später in Mode.
Unter der Woche durfte ich manchmal mitgehen, wenn mein Oppa sein Flaschenbier dort besorgte. Hasselkuss lag näher am Rathaus als die nächste Selterbude, außerdem konnte man hier ein, zwei Gezapfte kippen, während man auf die Flaschen wartete. Oppa stellte dann einen Fuß auf die Leiste am unteren Ende des Tresens und redete mit dem Mann dahinter, der seinen Haarschnitt direkt aus dem Krieg mitgebracht hatte. »Bürstenschnitt« nannte man so was ganz richtig, und man hätte Schuhe mit der Oberseite nach unten über diese Bürste
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