Radio Nights
uns auch besuchten, sehr selten allerdings, und zu denen ich
Tante
und
Onkel
sagen mußte, immer noch, obwohl sie nicht mit mir verwandt waren.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Mit sechzehn, 1979, brach ich die Schule ab, am Ende der zehnten Klasse, vor dem Eintritt
in die Oberstufe. Das wollte ich mir nicht geben, es |38| hatte keinen Sinn, keine Bedeutung, keine Qualität. Was ich wissen mußte, glaubte ich zu wissen. Und meine Eltern wollte ich
genausowenig sehen, wie sie meine Schwester.
Ein Nachbar nahm mich irgendwann beiseite, fing mich ab, als ich auf dem Weg nach Hause war, ein lustloses Schlendern, mit
den Händen durch Zweige fahrend, die über Zäune hingen, Steine kickend. Es gab dort nichts, was mich erwartete: Noch immer
in meinem Kellerloch, konnte ich mit dem Stöpsel im Ohr stundenlang die Gitterstäbe anstarren und
The Load-Out
von Jackson Browne hören, eine prickelnde Aussicht – das Zimmer von Veronika war zum Gästezimmer geworden, obwohl wir so gut
wie nie Gäste hatten, aber es machte natürlich Eindruck, auf wen auch immer.
Dr. Krüger wohnte zwei Häuser weiter, auf der anderen Straßenseite. Ein älterer Herr, sympathisch, jedenfalls nach dem äußeren
Eindruck zu urteilen: Kontakt mit den Nachbarn hatten wir kaum.
»Donald!« rief er.
Ich wackelte rüber, erfreut über die Unterbrechung.
»Hast du Zeit? Könntest du mal reinkommen?«
»Klar.« Ein Schmutzfink, einer, der böse Sachen mit halbwüchsigen Jungs machte, war das wohl kaum. Ich ging mit hinein, in
ein gepflegtes, recht modernes Haus. Krüger brachte mir eine Coke und goß sich Kaffee ein. Wir setzten uns in ein Zimmer,
das mit Büchern vollgestopft war.
»Du weißt, daß ich Anwalt bin?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Na ja, ich bin einer. Für Familienrecht, das ist mein Spezialgebiet. Ich würde gerne mit dir über deine Eltern sprechen,
wenn es dir recht ist.«
Ich starrte ihn an. Familienrecht? Was hatte das zu bedeuten? Hatte ich irgendwas verbrochen, waren meine Eltern tot oder
so?
»Okay«, sagte ich.
Das war’s dann. Krüger hatte ziemlich viel mitbekommen, |39| und das, was er noch nicht wußte, erzählte ich ihm. Ich unterschrieb eine Vertretungsvollmacht. In den darauffolgenden Tagen
organisierte Krüger Gespräche mit Leuten vom Jugendamt, von irgendeiner seltsamen Initiative (die auch die Kosten übernahm,
später dann das Sozialamt), mit Veronika und ein paar anderen. Irgendwann gingen wir dann gemeinsam zu meinen Eltern. Sie
wehrten sich kaum, schienen mir sogar erfreut zu sein, um eine Bürde erleichtert, die ihnen nichts bedeutete. Noch am gleichen
Tag zog ich aus, erst für ein paar Tage zu Krüger, dann in eine Art WG, wie meine Schwester, aber deutlich sauberer: Betreutes
Wohnen für Jugendliche in meiner Situation. Krüger beantragte, mich vorzeitig für mündig erklären zu lassen. Ein halbes Jahr
später war ich frei. Zwei Wochen vor meinem siebzehnten Geburtstag. Das schönste daran war, daß meine Eltern zu Unterhaltszahlungen
verpflichtet waren. Ich nahm mir eine fitzelkleine Wohnung in Neukölln, ein Zimmer plus Küche, kein Warmwasser, keine Dusche,
Ofenheizung, Klo in der ehemaligen Speisekammer, hundertzehn Mäcken im Monat. Ich war ein Kaiser. Es war ein großes Gefühl,
weit mehr als einfach pure Freiheit. Ich hatte keine Bindung, fing praktisch völlig von vorne an, keine Freunde, keine Verwandten,
die mir etwas bedeuteten, von Veronika mal abgesehen. Mein Leben begann; ich war guter Dinge, obwohl ich nicht die leiseste
Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Natürlich wollte ich noch immer ein
Radiomann
werden, eigentlich war das sogar alles, was mich interessierte. Aber das war leichter gesagt als getan, bei Licht betrachtet,
war es komplett unmöglich. Die beiden öffentlich-rechtlichen Sender mit ihren verkopften Programmen öffneten sich jungen Talenten
nicht, außerdem hätte man da erst volontieren müssen oder sich über Praktikumsplätze nach oben quälen. Ich traf irgendwann
einen Redakteur des SFB, und der nahm mir alle kurzfristigen Hoffnungen. Publizistik studieren, das hätte vielleicht geholfen,
aber ich wollte mir keine vier, fünf Jahre Uni gönnen, außerdem hatte ich das Abi ja in die |40| Tonne gekloppt. Von Privatradio war noch nicht einmal andeutungsweise die Rede. Der einzige in ganz Deutschland empfangbare
Privatsender war zu dieser Zeit
RTL Luxemburg
, der ein deutschsprachiges
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