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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Sie schien unzufrieden. »Meinst du nicht, daß mir Gelb vielleicht besser steht?« Dabei grinste sie.
    »Klar«, sagte ich.
    »Was heißt hier
klar
? Weiß
oder
gelb?«
    Ich holte tief Luft und glotzte auf ihr T-Shirt, einfach so, ohne einen Gedanken daran, daß der Blick vielleicht mißverstanden
     werden könnte. Weiß oder gelb? Keine Ahnung. Moment mal. Waren das
Brüste
? Nippel? Ich spürte, wie ich rot wurde, ganz schön rot, und sah lieber wieder zum Tresen, auf den Lieferschein für die Platten.
    »Weiß«, brummelte ich, peinlich berührt, wahrscheinlich zum allerersten Mal überhaupt.
Peinlichkeit
war mir schlicht fremd bis zu diesem Zeitpunkt. Weiß, gelb, grün, rot. Sie hätte genausogut würfeln können, statt sich auf
     eine Empfehlung von mir zu verlassen. Außerdem hatte sie das
weiße
T-Shirt an, wie sollte ich da wissen, ob ihr Gelb steht. So eine blödsinnige Frage. Meine Imaginationsfähigkeit, was weibliche
     Körper in verschiedenen Outfits anbetrifft, war damals noch nicht sehr ausgeprägt.
    Sie antwortete nicht. Nach ein paar Sekunden wagte ich es, den Blick wieder zu heben. Sie stand immer noch da.
    »Ist irgendwas?« fragte sie grinsend.
    |46| Ich blies die Backen auf. Schüttelte den Kopf, ein bißchen zu sehr, wurde wieder rot.
Was zur Hölle …?
    »Weiß also«, stellte sie fest. »Gut.«
    Ich nickte. Mir war Kleidung völlig egal. Ich kleidete mich, um nicht nackt zu sein, um nicht zu frieren, um nicht aufzufallen,
     wäre sonst wahrscheinlich im Bademantel herumgelaufen. Aufwendige Klamotten fielen für mich in die gleiche Kategorie wie Gästezimmer,
     die nie jemand bewohnt: Makulatur, Vortäuschung falscher Tatsachen, Blendertum, geeignet, jemanden zu beeindrucken, ohne daß
     irgendwas dahinterstünde. Je besser Leute angezogen waren, um so skeptischer stand ich ihnen gegenüber. Vor allem aber stand
     ich Leuten skeptisch gegenüber, die auf den Mummenschanz hereinfielen – auf
jede
Art, ob nun teure Klamotten oder Gästezimmer für
niemanden
, obwohl ich wenige Leute kannte, die wirklich teure Klamotten trugen. Ich selbst hatte immer irgendwelche Hosen an, die mir
     halbwegs paßten, und irgendwelche Pullis, die der gleichen Anforderung genügten. Immerzu und ohne Abwechslung. Meine derzeitige
     Kleidung bestand aus einem ausgewaschenen schwarzen (jetzt also wäßrig-grauen) T-Shirt und einer Jeans, die der Geschichte
     dieser Hose alle Ehre machte: Sie war halb zerfleddert und inzwischen fast ohne Farbe. Irgendwann kam das in Mode, aber bei
     mir hatte das nichts mit Mode zu tun, weniger als nichts.
     
    »Kannst du mir irgendeine Platte empfehlen? Was ist
heiß
zur Zeit?«
    Gottogott. Heiß? Vielleicht weiße T-Shirts. Nippel. Ich kämpfte weiterhin gegen den Blutstau in meinem Gesicht an, schob den
     Lieferschein in eines der Ablagefächer im Tresen, um ein wenig abzulenken, und glotzte dann wie ein Bescheuerter durch den
     Laden, als würde man den Covern (alle in Plastikschutzhüllen, gebraucht für zwanzig Pfennig, ein ausgesprochen gut laufender
     Artikel) ansehen, was
heiß
war.
Alles
war heiß. Aber dieses Mädchen wollte sicherlich nichts |47| von Singer-Songwritern wissen. Oder von Konzeptalben. Also ging ich die Charts im Kopf durch. Nannte ein paar Alben, ein paar
     Singles, aber das grünäugige Mädchen verzog das Gesicht.
    »Hörst
du
solche Musik?« fragte sie.
    Ich zuckte die Schultern. »Du hast gefragt, was heiß ist.«
    »Ja, aber die Hitparaden kenne ich selbst. Ich dachte, du wüßtest ein bißchen mehr.«
    In diesem Moment passierte etwas, keine Ahnung, was genau. Ich fühlte mich plötzlich besser, ein bißchen befreit, die Angst
     vor der jungen Frau fiel ab, warum, war mir nicht bewußt, weiß ich so
richtig
bis heute nicht.
    »Das ist nicht ganz neu«, sagte ich. Aber einen Versuch war es wert. »Du kannst es dir anhören und die Platte zurükkbringen,
     wenn sie dir nicht gefällt.«
    Ich gab ihr ein gebrauchtes Exemplar von
Running On Empty
. Meiner absoluten Lieblingsplatte. Sie drehte das leicht angeschlagene Cover um.
    »1977«, sagte sie.
    »Na und?« fragte ich selbstbewußt zurück. »Kennst du es?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Dann hör’s dir an. Ich weiß nicht, was du mit
heiß
meinst, aber es ist ein tolles Album.«
     
    Sie bezahlte das
weiße
T-Shirt und hinterlegte einen Fünfer Kaution für die Platte. Als sie gegangen war, stand ich noch eine ganze Weile am Tresen,
     merkte nicht, daß keine Musik mehr lief, und übersah fast

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