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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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gerissen. Selbst mein Zimmer
     hatte sie aufgeräumt, was ich haßte; ihre Art von Ordnung und meine waren inkompatibel.
    »Klasse«, sagte Rudi, in einer langsamen, gleichsam abwesenden Bewegung nickend. »Du kannst anfangen, wann du willst. Vielleicht
     erst mal vormittags, da ist am wenigsten los. Ab wann?«
    Ich hatte meine Jacke bereits ausgezogen.
     
    Es war phantastisch. Unglaublich. Wie ein Traum. Ich konnte Platten hören, die noch niemand kannte, laut und wohlklingend
     über die Beschallung des Ladens, gegen die meine erknauserte Ratenzahlungsanlage vom Otto-Versand total abstank (billigstmögliches
     Modell, alles in einem, aus klapprigem Plastik, Boxen mit zwanzig Watt Leistung, zwei Wege, blecherner Sound). In einem gelagerten
     Regal an der Rückwand, hinter dem Tresen, stand ein Rieseneumel von Verstärker, mit acht Boxen, die über die beiden Ladenräume
     verteilt waren (Sound und Fashion waren getrennt untergebracht), und daneben ein Plattenspieler, der mir Ehrfurcht einflößte,
     mit Naßspielarm, der ein Alkohol-Wasser-Gemisch absonderte, um die Platten vor dem Verkratzen zu schützen, und einem System,
     das wie eine landende Concorde aussah. Außerdem gab es einen Cassettenrecorder von Nakamichi, |43| der so teuer war, daß ich ihn anfangs überhaupt nicht anfaßte.
    »Ist alles halb so wild«, sagte Rudi am dritten oder vierten Tag. »Die Anlage habe ich von einem Kumpel geerbt, der nach Tibet
     ausgewandert ist; ich würde mir nie so teures Zeug kaufen. Mach dir also nicht so viele Gedanken. Was kaputt ist, ist kaputt.«
    Ich machte mir also keine Gedanken, erwarb TDK-C90er Chrome-Cassetten zum Einkaufspreis und überspielte jede Platte, die mir
     in die Finger kam. Anfangs nur gebrauchte, aber irgendwann erlaubte mir Rudi, auch neue Platten aufzunehmen. Wenn ich ohne
     Naßspieler und supervorsichtig mit dem Plattenspielermonster hantierte, würde das kein Kunde merken. Ich war im Paradies.
    Und dazu machte der Job auch noch Riesenspaß, na ja, bis auf den Fashion-Anteil, das war zuerst nicht so toll, weil ich es
     da hauptsächlich mit Mädchen zu tun hatte, Mädels zwischen zwölf und zwanzig, die billige T-Shirts und Karottenjeans kauften.
     Ich war siebzehn, aber ich hatte noch nie eine Freundin gehabt, geschweige denn Sex mit jemand anderem als meiner rechten
     Hand, das dafür in gehöriger Menge, häufig mit dem Bild meiner Schwester vor Augen, wie sie im Etagenbett unter mir zugange
     war, meiner einzigen Live-Sex-Erinnerung bis dato. Mädchen verunsicherten mich ein bißchen, vor allem, wenn sie in grauenhaften
     rosa-oder orangefarbenen T-Shirts oder rasend komisch geschnittenen Jeans vor mir standen, eine seltsame Form von Kompetenz
     vermutend (ich arbeitete ja schließlich in einem
Modegeschäft
, das ließ sich kaum verleugnen, mußte also ein Fachmann sein, obwohl ich selbst das allerletzte Zeug trug), und fragten:
     »Sieht das gut aus?«
    Und ich antwortete
immer
: »Klar!«
     
    Wenn ich nicht bei Sound-Fashion arbeitete, hockte ich in meiner Bude und hörte Musik, dabei las ich alles, was mir über Radio
     in die Hände fiel. Oft fuhr ich gleich nach der |44| Arbeit, um eins, zwei, drei, je nachdem, wann Rudi auftauchte (und das wurde immer später), in die Amerika-Gedenkbibliothek,
     die größte öffentliche Bücherei der Stadt, und forschte nach Material, aber es war enttäuschend. Ich fummelte mich durch ein
     paar total kopflastige Bücher über Journalismus, verstand aber nur die Hälfte. Dann entdeckte ich, daß es deutlich mehr Material
     über Musik gab, Rockmusik, sogar echte Lexika in deutscher Sprache, und viele Bücher auf englisch.
    Das waren meine Hauptbeschäftigungen. Ich versagte es mir, in Kneipen zu gehen, bevor ich achtzehn wäre, ich traute mich auch
     nicht, es mal in einem Sexshop oder so zu versuchen. Nur noch ein paar Monate, dann sollte auch mein
social life
beginnen, hatte ich mir vorgenommen. Dann kam mir Liddy in die Quere.

|45| 5. Tea In The Sahara
1981
    »Steht mir das?« fragte ein Mädchen, schlank, mit glänzenden schwarzen Haaren, kurzen Haaren, und so tierisch grünen Augen,
     daß sogar ich starren mußte. Neunzehn, zwanzig, schätzte ich, obwohl mir das normalerweise völlig fern lag, das Nachdenken
     über Mädcheneigenschaften, mich einfach nicht interessierte. Jedenfalls
sehr
alt, aus meiner Sicht. Ehrfurchtgebietend. Sie trug ein weißes T-Shirt, die obligaten Jeans, die obligaten Turnschuhe.
    »Klar«, sagte ich.
    »Mmmh.«

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