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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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später auch die Jungs auferlegten:
Behavior Groups
mit festgesetzten Regeln. Mißachtung und Integration, Abgrenzung und Anbiederung. Ich verstand es ums Verrecken nicht, blieb
     Einzelgänger. Ein paar zaghafte Versuche, Freundschaften zu schließen, scheiterten, weil ich den
Spaß
, den die Jungs hatten, einfach nicht verstand, geschweige denn lustig fand, und weil mich die Themen, mit denen sie sich
     befaßten, einfach nicht interessierten: Fußball, flippern gehen, heimlich rauchen,
Weibern
nachstellen.
    Was mich interessierte, war der Deutschunterricht, vor |36| allem, wenn es um dialoglastige Literatur ging, Hörspiele und Theaterstücke. Aber mein Lieblingsfach war Musik. Da stand ein
     prächtiges Sonor-Schlagzeug im Musikraum, ganzer Stolz unseres glatzköpfigen Lehrers, Santana-Fan durch und durch, ein verklärter,
     leicht esoterischer Späthippie mit starkem Hang zu progressivem Rock. Die Schule hatte einen Synthesizer, so ein fummeliges
     Ding, das kaum je Töne hervorbrachte, schweineteuer, und wann immer sich eine Gelegenheit ergab, baute er den Koffer auf,
     mühte sich stundenlang am Steckfeld ab, um harmonische Sägezahnfolgen zu erzeugen, staunte über sich selbst, begeistert wie
     ein kleines Kind, während sich die meisten Schüler zu Tode langweilten und nicht einmal ansatzweise begriffen, was er uns
     da zu zeigen versuchte. Er hieß Paul; fast drei Jahre lang bemühte er sich händeringend, mich zum Singen zu bringen. Ich weigerte
     mich ebenso beharrlich: Singen war nun wirklich nicht mein Ding.
Sprechen
, das war es. Und Musik. Endlich, mit vierzehn, fünfzehn, entdeckte ich Rockmusik, Pop, progressiven Krempel, was sich damals
     noch auf Pink Floyd, Genesis und Mike Oldfield beschränkte. Paul ließ sich in seinem Bemühen, mich in den Chor, zur Gesangsausbildung,
     irgendwas in dieser Art zu bringen, dazu herab, mir Musiccassetten aufzunehmen. Ich besaß einen Radiorecorder, mein ganzer
     Stolz, mühselig zusammengespart, und lauschte CCR, Santana, Manfred Mann und diesen Leuten. Ich liebte es, Alben zu hören,
     niemals nur einzelne Stücke, stümperhaft zusammengeschnitten – wie auf den hausgemachten MCs, die meine Mitschüler tauschten.
     Wenn ein Musiker ein Album macht, dachte ich mir, tat er das wohl kaum, um bis an sein Lebensende einen einzigen Titel aus
     dieser LP spielen zu müssen. Ich entdeckte die Konzepte, die hinter den Alben standen, die Entwicklung, das Gefühl, die Botschaft.
     Und als ich dann Jackson Brownes
Running On Empty
in die Hände bekam, war es um mich geschehen.
     
    Zu Hause tobte der übliche Krieg. Veronika war ausgezogen, pünktlich an ihrem achtzehnten, sie hatte einfach ihre Sachen |37| gepackt – und war auf und davon. Meine Eltern redeten nicht mehr mit ihr, ich mußte sie heimlich treffen, was nicht leicht
     war, denn anrufen konnte, durfte sie bei uns nicht, also holte sie mich von der Schule ab, manchmal. Damals wußte ich nicht,
     was Veronika tat, um zu überleben: Sie bewohnte eine heillos verdreckte WG im Wedding, die ich nur einmal sah, dann weigerte
     ich mich, sie dort zu besuchen. Ihre Mitbewohner waren dreckige, strubbelige Nichtstuer, und der Gestank in dieser Wohnung
     war einfach unerträglich. Veronikas Zimmer war zwar deutlich sauberer, aber der Schmuddel und selbst der Geruch aus der Küche
     ließen sich auch da eindringlich wahrnehmen. Sie führte mich in Eisdielen, ab und zu ins Kino, und kaufte mir manchmal eine
     Cassette, leider oft irgendwelche blöden Hit-Sampler, die ich mir kaum einmal anhörte und meistens tauschte. Veronika sah
     seltsam aus, war heftig geschminkt, richtiggehend
bemalt
, aber darunter blaß und irgendwie fahrig, wurde außerdem dünner. Sie sagte mir, sie würde nachts arbeiten, aber was, das
     sagte sie mir nicht, vielleicht aus Angst, ich würde es unseren Eltern verraten, aber diese Angst war unbegründet: Meine Eltern
     ignorierten mich. Es war, als würden wir nur zufällig das gleiche Haus bewohnen. Die Gespräche reduzierten sich auf die –
     bis ins späte neunte Schuljahr anhaltende und absolut sinnlose – Kontrolle meiner Hausarbeiten, auf kurze Kommentare beim
     Unterschreiben meiner Klassenarbeiten, ein paar Mark und ein Schulterklopfen bei guten Zeugnissen. Auch das hörte auf. Meine
     Eltern redeten allerdings kaum mehr
miteinander
, jedenfalls zu Hause nicht, höchstens, wenn sie wieder kloppvoll von irgendeiner Party, einer geselligen Runde kamen, mit
     irgendwelchen Säufern, die

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