Rätselhafte Umarmung
plötzlich unter einem starken Mikroskop zu liegen.
»Darf ich Sie fragen, wieviel er Ihnen bedeutet?«
Rachel riss die Augen auf und verriet Alaina damit alles, was sie wissen wollte.
»Keine Angst, ich habe keine Absichten.« Alaina gab sich augenblicklich Mühe, weniger streng auszusehen. Ihre Augen wurden warm und freundlich. »Ein Verrückter reicht mir völlig, und das ist mein Mann. Aber Bryan bedeutet mir viel. Ich möchte nicht, daß jemand ihm weh tut.«
»Ich will ihm nicht weh tun«, antwortete Rachel vorsichtig.
Alaina verkniff sich die Bemerkung, aber du wirst es tun, wenn du muss t. Eine kleine Sorgenfalte grub sich steil zwischen ihre Augen, dann fiel ihr Blick auf die Brosche, die Rachel am Kragen ihrer weißen Bluse trug.
»Verzeihen Sie, aber hat er Ihnen die geschenkt?«
Rachel legte die Finger an die schwere Brosche und strich langsam über den glatten Stein, »ja. Warum?«
Ein sanftes, wissendes Lächeln spielte um Alainas Mund. »Nur so«, antwortete sie leise. Geschickt lenkte sie vom Thema ab und wies zur leeren Eingangshalle. »Der Sturm scheint für einen Moment abzuflauen. Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee spendieren?«
Rachel hatte den unbestimmten Eindruck, daß sie eben eine Art Prüfung bestanden hatte. Sie fühlte sich erleichtert und lächelte die dunkelhaarige Frau glücklich an, obwohl sie nicht genau wusste , warum. »Gerne.«
Sie schlenderten hinaus auf die Veranda, wo Alainas Mann Dylan die Kinder beaufsichtigte, die den Erfrischungsstand betrieben. Dylans Sohn Sam, den Rachel auf etwa elf Jahre schätzte, schien das Kommando zu haben. Er war ein sehr ernster Junge mit sandhellem Haar und einem atemberaubenden Wortschatz. Zu seinen Assistenten zählten seine kleine Schwester Cori, ein dunkeläugiges, dunkelhaariges, charmantes Kind, und Faith Callans Tochter Lindy, ein reizendes sechsjähriges Mädchen mit goldroten Locken. Lindy schien sich vor allem um die Kekse zu kümmern - ein verräterischer Schokoladenstreifen zog sich quer über ihre Wange bis auf die Spitze ihrer Stupsnase. Dylan ruhte in einem Liegestuhl, hatte die Füße auf das Verandageländer gelegt und ein pausbäckiges Baby auf dem Schoss .
»Wie üblich beim Faulenzen, wie ich sehe«, kommentierte Alaina trocken. Aber aus ihren Augen leuchtete die Liebe, als sie in den widerspentigen kastanienbraunen Haaren ihres Mannes wühlte.
Dylan lächelte träge zu ihr auf. »Ich weiß eben, wie man Verantwortung delegiert.«
»So kann man es auch nennen.«
Alaina nahm das Baby auf den Arm, knuddelte es und verzog schmerzlich das Gesicht, als die Kleine fröhlich quietschte und Alaina Schokoladenguss auf den makellosen Pullover schmierte. Erfolglos versuchte Alaina, den Fleck mit einer Serviette zu entfernen.
»Bestimmt haben sie uns im Krankenhaus das falsche Baby mitgegeben«, sagte sie. »Sie haben uns das Baby des Wäschereibesitzers untergeschoben; es war ein Komplott.« Sie küsste ihre Tochter auf die Nase und lächelte. »Aber ich gebe dich bestimmt nicht wieder her. Keine Angst, meine Süße. Ganz bestimmt nicht.«
Das Baby quietschte wieder und hopste in den Armen seiner Mutter.
Rachel lächelte und nippte an ihrem Kaffee. Alaina war nicht gerade eine Bilderbuchmutter, aber dadurch wirkte die Szene fast noch rührender. Rachels Blick fiel auf ihre eigene Mutter. Sie stand zusammen mit Bryan neben ein paar Gartenmöbeln, die sie verkaufen wollten - einer hölzernen Hollywoodschaukel und drei Sesseln. Auch Addie war nie besonders mütterlich gewesen. Trotzdem hatten sie sich einst nahegestanden. Rachel hatte gehofft, daß sie diese Nähe wieder finden würden, bevor Addies Krankheit jede
Vertrautheit unmöglich machte. Aber das brachten sie anscheinend nicht fertig. Die Vergangenheit stand wie eine Mauer zwischen ihnen, und die Gegenwart mit der Auseinandersetzung über den Umzug und über ihren Roilentausch trug nicht dazu bei, diese Mauer einzureißen.
»Verzeihen Sie, Miss Lindquist.«
Rachel bekam beinahe einen Herzinfarkt. Der Kaffee spritzte über den Tassenrand, und sie machte einen Satz nach hinten, damit er nicht auf ihrer auberginefarbenen Hose landete. »Mr. Porchind. Haben Sie mich aber erschreckt.«
Um es gelinde auszudrücken, dachte sie, während sie sich dem Mann zuwandte. Mr. Rasmussen tauchte hinter seinem Partner auf; vorher war er kaum zu sehen gewesen. Der blaue Fleck auf seinem Kinn war abgeklungen, aber trotzdem sah der dünne Mann mit seinen tiefliegenden Augen und den
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