RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
doch in mir. Daher war es so wichtig, weiter auf Sicherheit zu spielen, mehr denn je bei meinem üblichen Defensivspiel zu bleiben und zu hoffen, dass er nervlich angeschlagener war als ich.
Wir begannen das Spiel mit zwei sehr langen Ballwechseln, die jeweils über mehr als 20 Schläge gingen. Den ersten gewann ich, als ihm ein Ball zu lang geriet; den zweiten holte er mit einem unglaublichen Vorhand-Winner. Es stand 15 beide, und ich spürte, wie meine Anspannung wuchs, blieb aber gerade noch gefasst genug, um zu registrieren, dass er vielleicht zufrieden über den so gut gewonnen Punkt war, aber auch begriff, dass er sehr hart würde arbeiten müssen, um die Oberhand über mich zu erringen. Vermutlich dachte er: »Uff! Was für eine Plackerei, diesem Kerl einen Punkt abzujagen!« Unterdessen sah ich, dass er müde war und keuchte, und ich dachte: »Ich bezweifle, dass ihm so ein Schlag so bald noch einmal gelingt.« Zumindest wollte ich das gern glauben.
Den nächsten Ballwechsel verlor ich durch eine tollkühne Vorhand, kämpfte mich aber mit einem großartigen, hohen und weiten Aufschlag zurück auf 30 beide. Normalerweise hätte ich den Aufschlag auf Sicherheit gespielt. Ich hätte mich darauf konzentriert, dass der erste Aufschlag im Feld landete, um mir die Aussicht zu ersparen, ihm mit einem zögerlichen zweiten Aufschlag vielleicht ein Geschenk zu machen. Aber ich war mir meiner Aufschläge nie sicherer als bei diesem Turnier und hatte das Gefühl, dass der Augenblick da sei, aufs Ganze zu gehen. Es war die richtige Entscheidung. Mein nächster Aufschlag war ein Ass, das mir einen Satzball verschaffte, und der nächste gelang ebenso gut – lang, hart und unreturnierbar auf seine Rückhandseite gespielt. Ich gewann den Satz 6:4.
Dies war nun eine kristallklare Bestätigung der Philosophie harter Arbeit, die mir in meinem 20jährigen Tennisleben als Leitlinie gedient hatte. Es war der eindeutige Beweis des Ursache-Wirkung- Zusammenhangs und der Überzeugung, dass Siegeswille und der Wille, sich vorzubereiten, ein und dasselbe sind. Ich hatte vor den US Open lange und hart an meinem Aufschlag gearbeitet. Und nun, als ich es am nötigsten brauchte, zahlte es sich aus und rettete mich in eben jenem Moment, als meine Nerven mein Spiel zu untergraben drohten. Ich stand unmittelbar vor etwas wahrhaft Großem. Die Tatsache, dass ich es bis an diesen Punkt geschafft hatte, war die Krönung langjähriger Opfer und Hingabe, die auf der ehernen Prämisse beruhten, dass es keine Abkürzung zu dauerhaftem Erfolg gibt. Im Spitzensport kann man nicht mogeln. Talent allein genügt nicht. Es ist lediglich die Basis, auf der man mit unermüdlicher, sich ständig wiederholender Arbeit im Fitnessstudio, auf dem Tennisplatz und an Analysen der eigenen Spielweise und der seiner Gegner anhand von Videos aufbauen muss, um immer fitter, besser und souveräner zu werden. Ich hatte mich entschieden, Tennisspieler zu werden, und die Folge dieser Entscheidung konnte nur unermüdliche Disziplin und das andauernde Bestreben sein, sich zu verbessern.
Hätte ich mich zurückgelehnt, nachdem ich die French Open oder Wimbledon gewonnen hatte, und geglaubt, mein Spiel sei perfekt genug, um mir weitere Erfolge zu sichern, hätte ich nun nicht im New Yorker Arthur Ashe Stadium gestanden und die Chance gehabt, die Liste meiner Erfolge um die US Open zu erweitern. Ich hatte es nur so weit gebracht, weil ich nie meine Prioritäten aus dem Blick verlor. Die eigentliche Prüfung findet an jenen Tagen statt, an denen man nach einer langen Nacht morgens aufwacht und alles lieber täte als aufzustehen, um zu trainieren, beinhart zu arbeiten und literweise Schweiß zu vergießen. Vielleicht überlegst du kurz: »Soll ich das Training heute mal ausfallen lassen, nur dieses eine Mal?« Aber du hörst nicht auf den Sirenengesang in deinem Kopf, weil du weißt, dass er dich auf einen gefährlich steilen, rutschigen Weg führt. Wenn du einmal nachgibst, wirst du immer wieder nachgeben.
Gelegentlich befallen mich tief greifendere Zweifel. Wenn ich über Weihnachten einen Monat Urlaub von den Turnieren mache und bei meiner Familie auf Mallorca bin, sehe ich dem Beginn des neuen Jahres häufig mit gemischten Gefühlen entgegen. Mein Enthusiasmus wird von einer finsteren Stimmung überdeckt. Ich möchte neue Höhen erklimmen, die aber sehr hohe Berge bleiben. Ich weiß nur zu gut, wie erbarmungslos und zermürbend die Anforderungen des kommenden Jahres sein
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