RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
vielleicht nie wieder bekommen würde. Hätte ich konzentrierter gespielt und hier und da zwei oder drei Punkte mehr gemacht, hätte es ganz anders ausgehen können. Denn im Tennis hängt der Sieg von winzigen Kleinigkeiten ab. Den fünften und letzten Satz hatte ich 2:6 gegen Federer verloren. Aber hätte ich einen etwas klareren Kopf bewahrt, als ich 2:4 oder sogar 2:5 zurücklag und frühzeitig in diesem Satz meine vier Chancen genutzt, ihm seinen Aufschlag abzunehmen (statt mich festzufressen, wie ich es tat), oder hätte ich gespielt, als ob es der erste, nicht der letzte Satz wäre, dann hätte ich gewinnen können.
Toni konnte meinen Kummer durch nichts lindern. Aber letztlich sollte er Recht behalten. Ich bekam eine weitere Chance. Nur ein Jahr später stand ich wieder im Wimbledonfinale. Dieses Mal war ich fest entschlossen, meine Lehren aus der Niederlage im Vorjahr zu ziehen und mental nicht zu versagen, was immer auch passieren mochte. Das beste Zeichen, dass vom Kopf her bei mir alles in Ordnung war, zeigte sich in meiner festen Überzeugung, dass ich trotz aller Nervosität gewinnen würde.
Am Abend vor dem Match saß ich mit Verwandten und Freunden in dem Haus, das wir während des Wimbledonturniers gegenüber vom All England Club gemietet hatten, beim Abendessen. Jede Erwähnung des Endspiels war tabu. Ich brauchte es ihnen gar nicht ausdrücklich verbieten, dieses Thema anzusprechen, denn allen war völlig klar, dass ich innerlich bereits das Match durchspielte, ganz gleich, worüber ich ansonsten auch reden mochte, und dass ich dabei bis zum Beginn des Spiels ungestört bleiben musste. Wie an den meisten Abenden während des 14tägigen Turniers kochte ich. Kochen macht mir Spaß, und meine Familie ist der Ansicht, dass mir dies gut tut und mich beruhigt. An diesem Abend grillte ich Fisch und machte Pasta mit Shrimps. Nach dem Essen spielte ich mit meinen Onkeln Toni und Rafael Darts, so als wäre es ein ganz normaler Abend zu Hause in Manacor, meiner Heimatstadt auf Mallorca. Ich gewann. Später behauptete Rafael, er habe mich absichtlich gewinnen lassen, damit ich für das Finale in besserer Stimmung sei, aber das glaube ich ihm nicht. Für mich ist es wichtig, zu gewinnen, in allem. Was das Verlieren angeht, habe ich überhaupt keinen Humor.
Gegen 00.45 Uhr ging ich zu Bett, konnte aber nicht schlafen. Ich hatte nur das eine Thema im Kopf, das wir ausdrücklich gemieden hatten. Ich schaute mir Filme im Fernsehen an und schlief erst gegen 4 Uhr morgens ein. Um 9 Uhr stand ich auf. Es wäre besser gewesen, wenn ich ein paar Stunden länger geschlafen hätte, aber ich fühlte mich frisch, und mein Physiotherapeut, Rafael Maymó, der mich ständig betreut, erklärte, es sei nicht schlimm – die Aufregung und das Adrenalin würden mich über die Runden bringen, so lange das Spiel auch dauern mochte.
Zum Frühstück trank ich wie üblich Orangensaft und Kakao – niemals Kaffee – und aß Frühstücksflocken und eine Spezialität aus meiner Heimat, Brot mit Olivenöl und Salz. Ich war mit einem guten Gefühl aufgewacht. Im Tennis hängt viel von der Tagesform ab. Wenn man morgens aufsteht, fühlt man sich manchmal munter, gesund und stark, an anderen Tagen benommen und anfällig. An diesem Tag war ich wacher, beweglicher und energiegeladener denn je.
In dieser Stimmung ging ich um 10.30 Uhr zum abschließenden Training über die Straße auf Court 17 unweit vom Centre Court. Wie üblich legte ich mich auf eine Bank, und Rafael Maymó – den ich »Titín« nenne – dehnte und beugte meine Knie, massierte mir Beine, Schultern und vor allem die Füße. (Mein linker Fuß ist meine Schwachstelle, die mir am häufigsten starke Schmerzen bereitet.) Diese Massage soll die Muskeln anregen und die Verletzungsgefahr reduzieren. Vor einem großen Match schlage ich mich zum Aufwärmen gewöhnlich eine Stunde lang ein, aber weil es nieselte, hörte ich schon nach 25 Minuten auf. Wie immer fing ich behutsam an, steigerte allmählich das Tempo und lief und schlug schließlich mit der gleichen Intensität wie in einem Match. An diesem Morgen war ich beim Training nervöser, aber auch konzentrierter als sonst. Außer Titín waren noch Toni und mein Agent Carlos Costa anwesend, der mir als ehemaliger Profitennisspieler beim Aufwärmen helfen sollte. Ich war stiller als sonst. Das galt für uns alle. Keine Scherze. Kein Lächeln. Als wir zusammenpackten, bemerkte ich mit einem flüchtigen Blick, dass Toni nicht
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