RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
sonderlich zufrieden war und den Eindruck hatte, ich hätte die Bälle nicht so sauber geschlagen, wie ich es gekonnt hätte. Er sah besorgt aus – diesen Blick kannte ich nur allzu gut. Er hatte insofern Recht, als ich mich nicht gerade von meiner besten Seite gezeigt hatte. Aber ich wusste etwas, was er nicht wissen konnte, so überaus wichtig er in meiner gesamten Tenniskarriere auch für mich war: Körperlich fühlte ich mich in Bestform, abgesehen von Schmerzen in der linken Fußsohle, die ich behandeln lassen musste, bevor ich auf den Platz ging. Tief im Inneren war ich überzeugt, dieses Mal zu gewinnen. Beim Tennisspiel gegen einen Gegner, dem man ebenbürtig ist oder den man sogar besiegen kann, hängt alles davon ab, sein Spiel abzurufen, wenn es gebraucht wird. Ein Champion spielt nicht in den ersten Runden eines Turniers am besten, sondern im Halbfinale und Finale gegen die stärksten Gegner, und ein großer Tennischampion spielt am besten in einem Grand-Slam-Finale. Ich hatte meine Befürchtungen – ständig kämpfte ich gegen meine Nervosität an –, aber ich bezwang meine Ängste und dachte nur daran, dass ich an diesem Tag meine Chance nutzen würde.
Körperlich war ich fit und in guter Form. Einen Monat zuvor hatte ich bei den French Open sehr gut gespielt und Federer im Finale besiegt. In Wimbledon hatte ich bisher auf Rasen einige unglaublich gute Matchs gespielt. Bei unseren vorangegangenen beiden Wimbledonbegegnungen war Federer als Favorit angetreten. In diesem Jahr sah ich mich noch immer nicht als der Favorit. Aber es bestand ein Unterschied: Auch Federer war nach meiner Einschätzung nicht mehr der Favorit. Meine Siegchancen schätzte ich 50:50 ein.
Zudem war mir eines klar: Nach dem Match würde das Verhältnis der direkten Gewinnschläge und unnötigen Fehler höchstwahrscheinlich bei uns beiden etwa im Verhältnis 50:50 liegen. Das liegt im Wesen des Tennisspiels, zumal bei zwei Spielern, die mit dem Spiel des Gegners so vertraut sind wie Federer und ich. Man sollte meinen, dass mir nach Millionen von Bällen, die ich geschlagen habe, die Grundschläge in Fleisch und Blut übergegangen wären und es ein Leichtes sein müsste, jedes Mal zuverlässig einen glatten, sauberen, präzisen Ball zu spielen. Das ist aber nicht der Fall. Dies liegt nicht nur daran, dass man sich an jedem Tag anders fühlt, sondern auch daran, dass jeder, aber auch wirklich jeder Schlag anders ist. Sobald der Ball in Bewegung ist, fliegt er in einem geringfügig anderen Winkel und mit einer geringfügig anderen Geschwindigkeit auf dich zu: mit mehr Topspin oder Slice, flacher oder höher, auch wenn die Unterschiede zwar unendlich klein sein mögen. Das gilt bei jedem Schlag aber auch für die Variationen der eigenen Körperhaltung – der Schultern, Ellbogen, Handgelenke, Hüften, Knöchel, Knie. Zudem wirken sich noch viele andere Faktoren aus wie Wetter, Belag und natürlich der Gegner selbst. Kein ankommender Ball gleicht dem anderen, kein Schlag dem anderen. Daher musst du bei jeder Ballannahme in Sekundenbruchteilen Flugbahn und Geschwindigkeit des Balls einschätzen und entscheiden, wie und wo du den Ball annehmen und mit welcher Härte du ihn zurückschlagen sollst. Und das musst du immer wieder tun, über fünfzig Mal in einem Spiel, 15 Mal in 20 Sekunden, unablässig über mehr als zwei, drei, vier Stunden. Dabei läufst du ständig schnell hin und her und deine Nerven sind angespannt. Wenn deine Koordination stimmt und dein Tempo flüssig ist, stellt sich ein gutes Gefühl ein, und zunehmend gelingt dir die eigene physische und mentale Meisterleistung besser, den Ball ein ums andere Mal mit Höchstgeschwindigkeit und unter enormem mentalem Druck exakt mit der Schlägermitte zu treffen und genau zu platzieren. An einem besteht für mich kein Zweifel: Je mehr man trainiert, umso besser fühlt man sich. Mehr als die meisten anderen Sportarten ist Tennis Kopfsache; ein Spieler, der dieses gute Gefühl an den meisten Tagen entwickelt und es schafft, sich von seinen Ängsten sowie den Höhen und Tiefen zu lösen, die ein Match unweigerlich mit sich bringt, wird letzten Endes die Nummer eins der Weltrangliste werden. Dieses Ziel hatte ich mir in den vier Jahren gesetzt, als ich geduldig die Nummer zwei hinter Federer war, und mir war klar, wenn ich das Wimbledonfinale gewinnen sollte, wäre ich nahe daran, dieses Ziel zu erreichen.
Es war fraglich, wann das Match tatsächlich beginnen würde. Ein Blick nach
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