RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
return, der meine Sinne dafür schärft, dass ich sehr bald in den Wettkampf eintrete.
Bald war es Zeit, auf den Platz zu gehen. Das Adrenalin, das sich schon den ganzen Tag in mir aufgebaut hatte, überflutete mein Nervensystem. Ich atmete schwer und platzte schier vor lauter angestauter Energie. Aber ich musste noch einen Moment länger still sitzen, während Titín schweigend und mit ebenso mechanischen Bewegungen die Finger meiner linken Hand, meiner Spielhand, tapte. So wie ich die Griffe meines Schlägers umwickelt hatte. Das ist keineswegs nur eine einfache kosmetische Maßnahme, da die Haut sich ohne Tape dehnen und während des Spiels aufreißen würde.
Schließlich stand ich auf und begann, mich eingehend aufzuwärmen – meine Explosivität zu aktivieren, wie Titín es nennt. Toni war da, beobachtete mich, sagte aber nicht viel. Ob Federer mich ebenfalls beobachtete, wusste ich nicht. Mir war nur klar, dass er vor einem Match in der Umkleidekabine nicht so geschäftig war wie ich. Ich hüpfte auf der Stelle und lief in dem engen – allenfalls sechs Meter langen – Raum von einem Ende zum anderen. Dann blieb ich stehen, ließ Kopf, Schultern und Handgelenke kreisen, ging in die Hocke und machte Kniebeugen. Anschließend hüpfte ich wieder auf der Stelle und legte Kurzsprints ein, als sei ich zu Hause allein im Fitnessraum. Dabei hatte ich die ganze Zeit meine Kopfhörer auf und pumpte Musik in meinen Kopf. Ich ging zur Toilette. (Vor einem Match muss ich vor Nervosität häufig pinkeln, manchmal fünf bis sechs Mal innerhalb der letzten Stunde.) Als ich zurückkam, schwang ich die Arme hoch und ließ sie kraftvoll kreisen.
Toni bedeutete mir, die Kopfhörer abzunehmen, und sagte mir, dass sich der Beginn des Matchs wegen Regens verzögern würde, allerdings nicht länger als eine Viertelstunde, wie sie glaubten. Das brachte mich nicht aus der Fassung. Darauf war ich vorbereitet. Regen hatte für Federer die gleichen Auswirkungen wie für mich. Kein Grund, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Ich setzte mich, prüfte meine Schläger, die Balance, das Gewicht, zog meine Socken hoch und sorgte dafür, dass beide bis auf gleiche Wadenhöhe reichten. Toni beugte sich zu mir herüber: »Verliere die Spielstrategie nicht aus dem Blick. Tu, was du tun musst.« Ich hörte zu, ohne sonderlich darauf zu achten. In diesen Momenten weiß ich, was ich zu tun habe. Meine Konzentrationsfähigkeit ist gut, glaube ich. Mein Durchhaltevermögen ebenfalls. Durchhaltevermögen, ein großes Wort: in Schwung bleiben, niemals nachlassen, sich mit allem abfinden, was kommt, sich weder von Gutem noch von Schlechtem aus der Bahn werfen lassen – weder von großartigen noch von schwachen Schlägen, weder vom Glück noch vom Pech. In jedem Augenblick muss ich zielgerichtet sein, darf mich von nichts ablenken lassen, muss tun, was zu tun ist. Wenn ich den Ball zwanzig Mal auf Federers Rückhand schlagen muss, werde ich es zwanzig Mal tun, nicht neunzehn Mal. Wenn ich in einem Ballwechsel über zehn, zwölf oder fünfzehn Schläge hinweg auf meine Chance warten muss, einen Punkt zu erzielen, werde ich warten. Es gibt Momente, in denen du die Gelegenheit bekommst, einen Gewinnschlag mit 70prozentiger Erfolgschance zu machen; wartest du aber fünf weitere Schläge ab, verbessern sich deine Erfolgschancen vielleicht auf 85 Prozent. Du musst also hellwach und geduldig sein und darfst nichts überstürzen.
Wenn ich ans Netz gehe, ziele ich auf seine Rückhand, nicht auf seine stärkere Vorhand. Die Konzentration zu verlieren heißt, ans Netz zu gehen und den Ball auf seine Vorhand zu spielen oder im Eifer des Gefechts nicht seine Rückhand zu bedienen – immer seine Rückhand – oder zur Unzeit einen Gewinnschlag zu versuchen. Konzentriert zu sein heißt, ständig das zu tun, wovon ich weiß, dass ich es tun muss, nie von meinem Plan abzugehen, es sei denn, die Umstände eines Ballwechsels oder des Spiels ändern sich so sehr, dass ein Überraschungsschlag gerechtfertigt ist. Das erfordert Disziplin und Zurückhaltung, besonders wenn die Versuchung aufkommt, alles auf eine Karte zu setzen. Gegen diese Versuchung anzukämpfen bedeutet, die eigene Ungeduld oder Frustration in Schach zu halten.
Selbst wenn du anscheinend eine Chance siehst, Druck zu machen und die Initiative zu ergreifen, musst du weiter auf die Rückhand zielen, weil das über das gesamte Spiel hinweg das Klügste und Beste ist. So sieht der Plan aus. Es ist kein
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