RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
Stattdessen taten wir uns gegenseitig den Gefallen, ehrlich zu sein. Wir gaben uns die Hand, nickten, lächelten uns flüchtig an, gingen an unsere Spinde, die etwa zehn Schritte voneinander entfernt standen, und taten so, als sei der andere gar nicht da. Nicht, dass mir das schwer gefallen wäre. Ich war in der Umkleidekabine, und gleichzeitig hatte ich mich an einen Ort ganz tief im Inneren meines Kopfes zurückgezogen, während meine Bewegungen zunehmend vorprogrammiert, automatisch abliefen.
Eine Dreiviertelstunde vor dem angesetzten Spielbeginn duschte ich kalt. Eiskalt. Das mache ich vor jedem Match. Es ist das Stadium vor dem point of no return ; der erste Schritt in die letzte Phase meines Vorbereitungsrituals auf das Spiel. Unter der kalten Dusche komme ich in einen Zustand, in dem ich meine Energie und Spannkraft wachsen spüre. Wenn ich aus der Dusche komme, bin ich ein anderer Mensch. Ich bin aktiviert, in einem »Flow«, wie Sportpsychologen den Zustand völliger Konzentration nennen, in dem der Körper sich rein instinktiv bewegt wie ein Fisch im Wasser. Nichts existiert außer dem bevorstehenden Wettkampf.
Das war nur gut so, denn als Nächstes musste ich etwas tun, was ich unter normalen Umständen nicht ruhig über mich ergehen lassen würde. Ich ging hinunter in ein kleines Sanitätszimmer, um mir von meinem Arzt eine schmerzstillende Spritze in die linke Fußsohle geben zu lassen. Seit der dritten Turnierrunde hatte ich eine Blase und eine Schwellung an einem der winzigen Mittelfußknochen. Dieser Teil des Fußes musste ruhig gestellt werden, sonst hätte ich vor Schmerzen gar nicht spielen können.
Anschließend ging ich wieder zurück in die Umkleidekabine und führte mein Ritual fort. Ich setzte mir Kopfhörer auf und hörte Musik. Das erhöht das Flow-Gefühl und rückt mich noch weiter von meiner Umgebung ab. Titín tapte meinen linken Fuß, während ich die Griffe der sechs Schläger präparierte, die ich mit auf den Platz nehmen würde. Das mache ich immer selbst. Die Schläger haben einen schwarzen Griff, den ich mit weißem Griffband umwickele, Runde um Runde, diagonal über den gesamten Schaft. Dabei brauche ich nicht nachzudenken, ich tue es einfach. Wie in Trance.
Anschließend legte ich mich auf eine Massagebank, und Titín tapte meine Beine unterhalb der Knie. Sie hatten mir ab und an ebenfalls Probleme bereitet, und das Tape half, Schmerzen vorzubeugen oder gegebenenfalls zu lindern.
Für normale Menschen ist der Sport eine gute Sache, auf der Profiebene ist er allerdings der Gesundheit nicht gerade förderlich. Er treibt den Körper an Belastungsgrenzen, für die er von Natur aus nicht ausgelegt ist. Aus diesem Grund hatte schon nahezu jeder Spitzensportler mit Verletzungen zu tun, die manchmal sogar das Karriereende bedeuteten. Auch in meiner Laufbahn gab es einen Moment, in dem ich mich ernsthaft fragen musste, ob ich weiterhin im Spitzensport mithalten könnte. Häufig kann ich meinen Sport nur unter Schmerzen ausüben, aber ich denke, das gilt für alle Spitzensportler. Jedenfalls für alle bis auf Federer. Ich musste meinen Körper erst formen und stählen, bis er den Anforderungen der ständigen Muskelbelastungen gewachsen war, die Tennis ihm abverlangt, dagegen scheint Federer für dieses Spiel einfach geboren zu sein. Seine körperlichen Voraussetzungen – seine DNA – ist anscheinend perfekt geeignet für das Tennis und macht ihn anscheinend immun gegen die Verletzungen, mit denen wir anderen uns abfinden müssen. Es heißt, er trainiere nicht so hart wie ich. Ich weiß zwar nicht, ob das der Wahrheit entspricht, aber es würde passen. Auch in anderen Sportarten gibt es diese von der Natur begünstigten Ausnahmesportler. Wir Übrigen müssen lernen, mit Schmerzen und langen Zwangspausen zu leben, weil ein Fuß, eine Schulter oder ein Bein einen Hilferuf an das Gehirn sendet und es auffordert, dem ein Ende zu bereiten. Deshalb gehört es zu den wichtigen Vorbereitungen, mich vor einem Match ausreichend tapen zu lassen.
Nachdem Titín meine Knie versorgt hatte, zog ich mich um, ließ mir am Waschbecken Wasser über die Haare laufen und legte mein Stirnband an. Auch dies erfordert kein Nachdenken, aber ich erledige es langsam und sorgfältig und knote das Band fest am Hinterkopf zu. Es dient dem praktischen Zweck zu verhindern, dass mir die Haare ins Gesicht fallen, gehört aber auch zu meinem Ritual und ist wie die kalte Dusche ein weiterer wesentlicher point of no
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