Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
Vom Netzwerk:
nach Tsonoqa fragte, hielt er inne und warf ihr einen kurzen Blick zu.
    »Hat Grace dir von ihr erzählt?«
    »Sie hat gesagt, ich soll mich vor ihr in Acht nehmen.«
    Greg lachte kopfschüttelnd. »Tsonoqa ist eine Legende, Hanna, ein Kinderschreck. Sie fängt kleine Kinder, die sich zu weit vom Dorf entfernt haben, sammelt sie in ihrem Rückenkorb und schleppt sie tief in den Wald, wo sie sie verspeist. Man sagt, ihr Kommen kündigt sich mit einem Säuseln in den Bäumen an.« Er wickelte die Lachshälften in Silberfolie und legte sie in einen Korb. »Keine Angst«, sagte er, »die meiste Zeit schläft sie.«
    »Aber warum sagt Grace dann so etwas?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, vielleicht wollte sie dir bloß ein bisschen Angst einjagen.«
    Später saßen sie zusammen am Strand neben einem offenen Feuer, tranken Apfelsaft und verzehrten das frische Brot und den Lachs, den Greg auf vier Stöcke gespießt über dem Feuer geröstet hatte.
    »Danke«, sagte Hanna, »deine Kochkünste sind einfach unglaublich. Aber du bist nicht für mich verantwortlich, Greg.«
    Ihre Augen waren grün wie das Meer – an einem ruhigen Sommerabend wie diesem. Die kleinen Sonnen tanzten darin.
    »Bin ich doch«, erwiderte er. »Ich habe dich aus dem Meer gefischt. Eigentlich gehörst du jetzt mir.«
    Hanna lachte kopfschüttelnd und verstummte, als sie merkte, dass er nicht miteinstimmte. Die Abendsonne zauberte Glanzpunkte auf ihr seidiges Haar und ließ es in Flammen aufgehen.
    »Übrigens«, er deutete auf ihren Pappteller, »du musst jede Gräte, jedes Knöchlein gut aufheben.«
    »Wozu?«, fragte sie verwundert.
    »Weil ich sie dem Fluss zurückgeben muss. Wir Makah glauben, dass die Lachse unseretwegen flussaufwärts schwimmen und dass diese Gunst von den Geistern jederzeit widerrufen werden kann. Ihre Knochen müssen wieder in den Fluss zurückgebracht werden, damit sie im ›Lachshaus unter dem Meer‹ wiedergeboren werden können. Es darf kein Knöchlein, keine Gräte fehlen, weil sie sonst dem wiedergeborenen Lachs auch fehlen und ihn das missgestalten könnte, was die Geister erzürnen würde.«
    »Aber«, sie sah ihn kurz an und gleich wieder weg, »du hast den Lachs aus dem Supermarkt und nicht aus dem Fluss.«
    Greg seufzte. »Warum musst du bloß so furchtbar unromantisch sein«, sagte er. »Ich habe mir solche Mühe gegeben, dich zu beeindrucken.«
    Nun lächelte auch Hanna. »Wer sagt denn, dass ich nicht beeindruckt bin?« Sie sammelte die abgenagten Gräten in die Papiertüte, in der Greg das Brot gekauft hatte, verschloss sie sorgfältig und reichte sie ihm.
    Fasziniert sah er zu, wie die Abendsonne Hannas Haar zu Feuer werden ließ. Es schien zu knistern und Funken zu sprühen, als wäre sie ein Wesen, das nicht von dieser Welt stammte.
    Als ihre Blicke sich begegneten, fehlten ihm die Worte.
    Hanna wandte sich ab und sah aufs Meer hinaus. Eine Weile betrachtete er noch ihr Profil, die hohe Stirn und die kleine, gerade Nase, das energische Kinn.
    »Hast du dir jemals gewünscht, ein anderer zu sein, als du bist?«, fragte sie ihn.
    »Ja«, sagte er nach einigem Zögern. »Ein einziges Mal in meinem Leben wäre ich gerne ein anderer gewesen.« Sein Blick wanderte über das Meer, bis weit hinter die Linie des Horizontes. Das sonst graugrüne Wasser war purpurfarben, wo das Abendlicht es berührte. Bald würde die Sonne hinter den Bergen verschwunden sein.
    »Als ich in Seattle lebte, war ich mit einer Frau zusammen, einer Navajo aus Arizona. Sie studierte Anglistik … wollte Lehrerin werden.« Greg zögerte. Aber er sah, dass Hannas Augen voller Erwartung an seinen Lippen hingen, und wusste, dass er seine Geschichte zu Ende bringen musste.
    »Sie hieß Jeramie«, fuhr er fort, »und war der warmherzigste, fröhlichste Mensch, der mir je begegnet ist. Zwei Jahre waren wir zusammen. Sie hatte gerade ihr Studium beendet, als ich erfuhr, dass Jim nicht aus Deutschland zurückgekehrt war.«
    Für einen Augenblick wunderte sich Greg über sich selbst. Dass er dieses Gespräch führte. Er hatte noch niemandem von Jeramie erzählt, auch seinem Vater nicht. Warum ausgerechnet Hanna?
    »Jeramie war ein Wüstenmensch, aufgewachsen im Monument Valley, ohne Strom, ohne fließend Wasser. Die feuchte Luft hier am Meer und der ständige Regen machten sie krank. Als ich zurückging nach Neah Bay, kam sie nicht mit mir.«
    »Hast du sie wiedergesehen?«
    »Nein.« Greg dachte, dass er nun genug Fragen beantwortet hatte.

Weitere Kostenlose Bücher