Rain Song
Inneren gab, der zu glühen anfing, wenn Joey sich in ihr bewegte. Und ihre Furcht, vielleicht doch einsam zu bleiben wie ihre Mutter oder ihre beiden Großmütter, verlor sich in den Schwingen eines Vogels, der über ihr kleines Zelt hinwegflog – immer der aufgehenden Sonne entgegen.
Greg saß in seinem Arbeitszimmer über seinen Skizzen. Das Kratzen des Bleistiftes auf dem Papier war das einzige Geräusch, das die Stille im Raum durchbrach.
Ab und zu glitten Gregs Gedanken weg von seiner Arbeit; hin zu Hanna und ihren Augen, die ihre Farbe wechseln konnten wie das Meer. Er dachte an die kleine Furche, die sich über ihrer Nasenwurzel bildete, wenn sie sich ärgerte. Es war eine Kraft in ihr, von der sie selbst nichts ahnte.
Greg versuchte, sich über seine Gefühle für Hanna klar zu werden. Das Gespräch mit ihr am Strand hatte etwas in ihm ausgelöst – etwas, das ihm bewusst gemacht hatte, wie sehr er sich danach sehnte, seine Gedanken und Befürchtungen mit jemandem teilen zu können; mit einem Menschen, den er liebte.
Aber Hanna war eine Babathlid, eine Weiße.
Er dachte an die schöne Annie Waata und ihre arktische Seele. Greg wusste, dass er niemals glücklich werden würde mit Annie, obwohl sie eine von seinem Volk war, eine Frau aus einer angesehenen Familie.
Nein, ich werde nicht tun, was alle sich von mir erhoffen, dachte er. Dieses ganze Statusgehabe war ihm fremd.
Seit Langem versuchte Greg, sich aus dem Klammergriff seines Vaters zu lösen, aber der alte Mann hatte immer noch Macht über ihn. Weil er die alten Legenden auf seiner Seite hatte. Sie waren das Erbe des Makah-Volkes. Ohne ihre Magie konnte auch Greg nicht existieren. Aber er würde die alten Legenden nicht mehr über sein Leben bestimmen lassen.
Bei seiner Rückkehr von Hanna war Greg auf eine Auseinandersetzung mit seinem Vater eingestellt gewesen. Er hatte Matthew den ganzen Tag nicht gesehen und wollte dem alten Mann endlich seinen Standpunkt klarmachen, ihm seine Vorstellungen von Zukunft schildern. Aber wider Erwarten war der Meisterschnitzer nicht zu Hause gewesen. Vermutlich schlief er über der Holzwerkstatt, in Jims ehemaligem Bett.
Vielleicht war Matthew Ahousat nicht nach Hause gekommen, weil er wusste, was ihn erwartete. Vielleicht, weil er die Wahrheit nicht hören wollte.
13. Kapitel
Am nächsten Morgen holte Greg Hanna ab und sie fuhren wieder zu Rosies Café, um zu frühstücken. Anschließend statteten sie der Autowerkstatt einen Besuch ab und fanden Henry mit dem Kopf unter der Motorhaube eines rostigen Trucks. Hannas Leihwagen stand auf der Rampe, der kaputte Auspuff lag auf dem Boden. Er war vollkommen verbogen, der Schalldämpfer hatte einen großen Riss.
»Schon was gekommen?«, fragte Greg.
Henry schüttelte bedauernd den Kopf. »Wird nichts vor Mittag«, nuschelte er durch seine Zahnlücke.
Hanna war nicht mal enttäuscht, sie hatte mit nichts anderem gerechnet.
Als sie auf den Hof der Holzwerkstatt bogen, stand dort Matthews schwarzer Jeep. Die Eingangstür war nur angelehnt. Hanna presste ihren Lederrucksack an ihre Brust und bemühte sich um ein gelassenes Gesicht. Aber in ihrem Inneren wehrte sich alles gegen eine Begegnung mit dem alten Mann.
»Ich muss allein mit ihm reden«, sagte Greg.
»Verstehe.« Erleichtert nickte sie.
»Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Ich komme schon zurecht. Ich habe ein Buch dabei.« Die Sonne schien und es war warm. Sie würde sich an den Strand setzen und lesen. Oder ein Stück laufen. »Okay. Dann sehen wir uns später.«
Hanna stieg aus und machte sich auf den Weg zum Hafen. Sie lief über den asphaltierten neuen Parkplatz, wo neben Jeeps mit Bootsanhängern auch drei im Sonnenlicht blinkende Wohnmobile standen. Vor dem einen standen zwei weiße Ehepaare und unterhielten sich. Sie wandten die Köpfe, als Hanna an ihnen vorbeiging, und grüßten. Drei blonde Jungen in kurzen Shorts rannten lachend einem Ball hinterher.
Am Strand, der geschützt in einer Bucht lag, die sich durch den schmalen Landweg zur Insel Waadah bildete, setzte sich Hanna auf einen Treibholzstamm. Waadah Island war bewaldet und unbewohnt. Jim hatte ihr erzählt, dass die Einheimischen dort auf Muschelsuche gingen.
Draußen im alten Hafen, gebaut auf Pfählen und erreichbar durch einen langen Steg, stand die Fischfabrik. Es war ein blauer, windschiefer Holzkasten, vor dem kleine und größere Fischerboote festgemacht hatten, um ihren Fang abzugeben. Möwen umkreisten die Boote in
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