Ramses 4 - Die Herrin von Abu Simbel
erfrischte sie mit dem Tau, der bei Sonnenaufgang die Erde benetzte.
Gemeinsam mit Nefertari begab sich Ramses auf dem von Sphingen gesäumten Weg zum Tempel von Luxor.
Vor dem Pylonen wartete ein Mann auf das Herrscherpaar, ein stämmiger Mann mit kantigem Gesicht, ein ehemaliger Aufseher über die Pferdeställe des Königs.
«Wir haben einander die Stirn geboten und miteinander gekämpft», rief der Pharao seiner Gemahlin in Erinnerung,
«und ich empfand nicht wenig Stolz, wenn ich ihm standhalten konnte, obwohl ich damals noch sehr jung war.»
Nach seinem Austritt aus der Armee hatte sich der einstmals so rauhe Bakhen, inzwischen in den Rang des Vierten Propheten von Karnak aufgestiegen, sehr verändert. Den Pharao wiederzusehen rührte ihn zu Tränen und erfüllte ihn mit so großer Freude, daß er kaum wußte, was er sagen sollte.
Doch er zog es ohnehin vor, sein Werk für sich sprechen zu lassen: die prächtige und eindrucksvolle Fassade von Luxor, vor der zwei Obelisken und mehrere Kolossalstatuen von Ramses aufragten. Die in den Sandstein eingemeißelten Szenen kündeten von der Schlacht bei Kadesch und vom Sieg des Königs von Ägypten.
«Majestät», erklärte Bakhen voller Begeisterung, «das Bauwerk ist vollendet!»
«Aber die Arbeit geht weiter.»
«Ich bin bereit.»
Dann betraten sie gemeinsam den großen Innenhof. Auch in den Säulengängen, die ihn säumten, standen Statuen des Königs.
«Was die Steinmetze und Bildhauer geschaffen haben, verdient Bewunderung, Bakhen, ich kann ihnen jedoch keine Ruhepause gönnen, denn ich gedenke, sie in eine Gegend mitzunehmen, in der sie großen Mühen, vielleicht sogar Gefahren ausgesetzt sein werden.»
«Darf ich erfahren, was du im Sinn hast, Majestät?»
«Ich werde mehrere Heiligtümer in Nubien errichten lassen, zu denen auch ein riesiger Tempel gehören wird. Rufe die Handwerker und Künstler zusammen und befrage sie. Es sollen nur diejenigen mitkommen, die es freiwillig tun.»
Das Ramesseum, der nach den Plänen des Königs erbaute Tempel für die Ewigkeit, war zu einem überwältigenden Denkmal Ramses’ des Großen gediehen, zum weitläufigsten am ganzen Westufer. Pylonen, Höfe und Kapellen bestanden aus Granit, Sandstein und Basalt. Mehrere Tore aus vergoldeter Bronze verbanden die verschiedenen, von einer Umfassungsmauer aus Ziegeln gegen die Außenwelt abgeschirmten Bereiche.
Chenar war es gelungen, bei Einbruch der Nacht in ein leeres Lagerhaus einzudringen. Mit Waffen ausgestattet, die Ofir ihm anvertraut hatte und von denen er sich die Entscheidung erhoffte, wartete der Bruder des Königs, bis es dunkel genug wurde, um sich in die heilige Stätte vorzuwagen.
Er schlich an der Mauer des noch nicht vollendeten Palastes entlang und überquerte einen Hof. Unweit der für Sethos erbauten Kapelle hielt er inne.
Sethos, sein Vater…
Aber ein Vater, der ihn verraten und Ramses zum Pharao erkoren hatte! Ein Vater, der ihn verachtet und vor den Kopf gestoßen hatte, indem er dem Tyrannen zu seinem Aufstieg verhalf.
Nachdem er seinen Plan ausgeführt hatte, würde Chenar nicht mehr Sethos’ Sohn sein. Doch was bedeutete ihm das schon?
Entgegen den Beteuerungen der in die Mysterien Eingeweihten überwand niemand das Hindernis des Todes. Das Nichts hatte Sethos verschlungen, wie es auch Ramses verschlingen würde.
Das Leben hatte nur einen Sinn: Es galt, mit welchen Mitteln auch immer, ein Höchstmaß an Macht zu erringen, sie uneingeschränkt auszuüben und dabei die Schwachen und die Unnützen zu zertreten.
Wer hätte je gedacht, daß Tausende von Dummköpfen begannen, Ramses für einen Gott zu halten! Wenn Chenar diesen Götzen erst einmal aus dem Feld geschlagen hatte, dann stünde der Weg zu einer neuen Staatsform offen. Er würde die veralteten Riten abschaffen und bei seiner Herrschaft nur die zwei Ziele verfolgen, denen allein Beachtung gebührte: die Eroberung neuer Gebiete und die Erweiterung der Handelsbeziehungen.
Gleich nachdem er den Thron bestiegen hatte, würde Chenar das Ramesseum abreißen und alle Darstellungen von Ramses zerstören lassen. Obwohl der Tempel für die Ewigkeit noch nicht vollendet war, strahlte er bereits eine Wirkung aus, gegen die selbst Chenar nur mit Mühe anzukämpfen vermochte. Ihm kam es so vor, als lebten die Hieroglyphen und die in den Stein gemeißelten oder an die Wände gemalten Szenen, als zeugten sie von Ramses’ Gegenwart, von seiner Stärke. Aber nein, das war nur eine von der Nacht
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