Ramses Mueller
ufl en, ein Vater war nie da, angeblich verunglückt, vermutlich geflüchtet. Selbst der Koch ist mit einem Mal da, schaut wächsern und mit furchiger Stirn aus der Tür, während er sich die Hände an der sagenhaft fleckigen Schürze abtrocknet. Bei seinem Anblick schüttelt es sie abermals.
– Was hat sie?
– Haben Sie Salat?
Sie blickt tränenblind abwechselnd auf den Haufen Labskaus, den kleinen gewickelten Fisch daneben und in der Runde herum, aber nicht den Koch an.
– Salat, ja, bring ich gleich.
– Willst du reden?
Stuckrad scheint echt in Sorge, und da bricht es aus Lydia heraus, ihre Mutter sei Anja Kruse, die Mimin, Fernsehschauspielerin, die, die mal als zweite Isabelle Adjani gehandelt wurde, sie sei immer nackt in der Wohnung herumgelaufen, nur mit Lipgloss bekleidet, denn sie bezeichnete sich, und tut das nach wie vor, als Lipgloss-Junkie, nackt, oder gnadenhalber unten die schlabbrige graue Adidas-Jogginghose auf Hüfte, hinten ragt die Klempnerfalte raus, die blau geäderten Brüste schlingern befreit, höhnisch auf Lydia deutend, sie habe immer neue, immer andere Liebhaber angeschleppt, die chlorblauen, professionellen Augen ihrer Mutter, in denen die Männer scharenweise ertranken, wie sie lachend erklärte, »Blutige Smaragde«, ihr Durchbruch, ab da wurde sie endgültig komisch, lachte nur noch, und sie heiße gar nicht Lydia, ihre Mutter sei so eifersüchtig auf sie gewesen, auf ihre »unerträgliche« Schönheit, weil sie als Kind alle Aufmerksamkeit bekommen, dass sie sie gedemütigt habe mit dem Namen Hulda, nachträglich umbenannt, mit sieben, das war hart für sie, sie hätte lieber eine Brille bekommen statt einer Namensänderung, Lydia hieß sie, dann Hulda, sie habe sie auch immer ausgelacht, aber das sei schon so in Ordnung gewesen, da bleibt man eben ein Mensch, und jetzt hier, bei ihnen, in dieser Runde hier, da kann sie auch wieder Mensch sein, die Schicksalsgemeinschaft. Einmal habe ihre Mutter einen kleinen Baum in ihrem Garten gefällt, warum hast du das gemacht, Mutter? Bäume sind schmutzig, hat sie geantwortet, schäbig lachend. Und irgendwie stimmt es ja auch, sie lassen dauernd etwas fallen. Beim Namen Hulda öffnet sich Armin, alle Ohren, alle Poren offen, das ist der Name der Prostituierten, zu der ihn sein Onkel geschleppt hatte, diese Hulda hier, das ist die Wiedergängerin, sie holt ihn ein, sie müssen etwas bereinigen, das, was damals »vergeigt« wurde, soll jetzt nachgeholt werden, etwas zu Ende bringen, Hulda/Lydia wird für ihn jetzt zur Bedrohung gleichermaßen wie zur Chance, hatte er also doch recht, dass er sie geküsst hatte gestern, und wenn auch nicht, das ist jetzt einerlei, war doch der Wunsch so übermächtig wie der Vater des Gedankens, die Schuld, die er seit der Begegnung mit seiner Traumahulda wie einen Sack schmutziger Kartoffeln mit sich herumschleppt, jetzt kommt eine, die heißt genauso, und jetzt kann er von dieser Schuld erlöst werden, sich endlich freischwimmen, es ist zwar nicht dieselbe, nicht mal die Gleiche, aber sie ist das Bild, sie muss als Symbol herhalten, er muss noch einen Anlauf, einen Kaltstart versuchen, er darf nicht lockerlassen, es soll da beginnen, wo es mit seiner letzten Hulda so furchtbar endete, zurücklaufen und sich selbst in jener Nacht abholen.
– Aber das ist doch nicht so schlimm, Lydia, jeder hat doch sein Päckchen zu tragen, und deshalb sitzen wir doch auch hier, man kann das alles bereden, nur fragt sich jetzt, wie willst du angesprochen werden? Lydia oder Hulda, übrigens ein schöner Name, »Wem Gott die rechte Huld erweist, den schickt er in die Einsamkeit«, Christoph Willibald Gluck, ah, der Salat kommt, hm, der sieht aber lecker aus!
Der Koch ist jetzt sehr aufgeräumt, er tut verschämt, ein zurückgenommener Stolz, einer, dem Lob auch wichtig ist, aber er muss jetzt Rücksicht spielen, weil bei dem jungen Mädchen hier irgendetwas zerbrochen scheint, nicht spielen kann er allerdings reine Fingernägel, alle betrachten den Salat übertrieben wohlwollend, so viel Aufmerksamkeit wurde einem einfachen Salat wohl noch nie zuteil, vor allem nicht hier in der Hundekehle , und diese Aufmerksamkeit prallt natürlich am Salat ab und federt zurück gegen den Koch, aus falscher Bescheidenheit zieht er sich jetzt keck zurück, das ist ihm wohl zu viel, jetzt warten alle, dass Lydia oder Hulda den Salat isst und wie sie ihn isst, und das überfordert sie natürlich auch noch, vielleicht gelingt es, wenn
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