Ramses Mueller
sie sich mal entschieden hat, wie sie weiterhin heißen will. Stuckrad legt schweigend die Murmel auf den Tisch, Armins Murmel, die er in seiner Wohnung gefunden hat, so, als sei sie die Erklärung für alles, und jeder könne in ihrer Form finden, was er braucht, und Entlastung für all das, was ihn drückt. Und tatsächlich, die kleine Kugel scheint allen als freundlich, passiv und doch bestimmend eine Energie auszuströmen und wenigstens ein bisschen Orientierungslosigkeit zu absorbieren, auch Armin denkt, jetzt ist sie wieder da, meine Murmel, näher bei mir, so gelange ich leichter an sie, wenn hier alles vorbei ist, ich schnappe sie mir und laufe weg, mit Hulda, in einen neuen Morgen, ich hol sie hier raus.
– Nennt mich Lydia. Hulda, das ist der Name, mit dem mich meine Mutter in die Schublade steckte, um sich alleine zu sonnen, es tut mir so leid, aber ich bin noch nicht ganz frisch von gestern, so viele Eindrücke, versteht mich, ich bin das nicht gewohnt, auch die Party gestern, die vielen Menschen, alle haben mich angestarrt, so, als würden sie mein Geheimnis kennen, ich bin so isoliert aufgewachsen, das ist ja etwas, was mir meine Mutter ersparen wollte, so viel Kontakt mit anderen, sie sagte, ich verbrenne, nur eine könne die Sonne ertragen, sie ist nicht groß genug für uns beide, ihre Augen, so voller Unschuld, das fl ache Wasser, das aber tiefer geht, als der Marianengraben lang ist.
Alle versuchen jetzt Lydias/Huldas Mutter zu imaginieren, den Namen kennt man ja irgendwie, aber wie sieht sie aus, wo spielt sie mit, Haußmann denkt gleich an Stuck-rads Stück, vielleicht sollte Anja Kruse sich gleich selbst spielen, so als Therapie, sie könnte ihre Mutterschuld abtragen, das, was sie der Tochter angetan hatte, mal merken, den Gedanken zum Namen, das Problem wird sein, der Name ist so einfach, den vergisst er leicht, je komplizierter der Name, desto sicherer, dass man ihn behält.
– Ich esse wie eine Schnecke, nicht? Lydias Tränen versickern schon, sie lächelt zaghaft.
– Ja, Schnecken fressen ja auch gern Salat.
Das geht voll daneben, ein Faustschlag, man darf die Nahrungsaufnahme eines gerade Genesenden nicht als Fressen bezeichnen, Schubal verflucht sich, etwas gesagt zu haben, gerne würde er in seine Hand beißen, Worte dadurch ungeschehen machen.
– Nein, ich meine, so langsam.
Jetzt ist die Kälte, die Einsamkeit, ihre unendliche Einsamkeit förmlich greifbar, alle spüren sie, winden sich innerlich vor Schmerz, das ist jetzt der tiefste Punkt, den sie erreicht haben, im Marianengraben, es geht nicht tiefer und dunkler, da wachsen die Manganknollen, man kann nur noch nach oben, alle sind jetzt Lydia, auch Schubal, er sogar ganz besonders, auch er ganz verloren, seine Mutter, die ihm den Camembert zum Fraß vorwirft, dort Anja Kruse, die Lydia in die Besteckschublade steckt und draußen lacht, die verlorenen, vaterlosen Wanderseelen, Essen als Problem, Labskaus hat er noch nie gegessen, er fühlt sich so ungebildet, ihm schnürt es die Kehle zu, er stopft, den Kopf ganz tief gesenkt, die plumpe Grütze in sich, es rutscht ihm schwer, er kaut nicht, sondern schluckt sie gleich so, wie sie ist, die Speise, vielleicht braucht sie mehr Aufmerksamkeit, dass man sie schmeckt, erfährt, aber die kann er ihr nicht geben, diese Aufmerksamkeit, weil er zu dumm ist, einfach zu dumm, das ist die schlichte Wahrheit, die Dummheit, das ist er. Stuckrad ist relativ entspannt, er merkt, wie alle die umgekehrte Metamorphose Lydias in Hulda beobachten, eine Rückverpuppung, der Falter, der sich wieder in den Kokon spinnt, er entwickelt Soziogramme, man muss sie zeichnen, seine Halmafiguren, was schreibt er da hin, er legt es weich an, es fl ießt, er lässt es schweifen, es tut gut, seine Gedanken treiben unwillkürlich zu Schubal. Etwas stört ihn am Namen, er hat es mit mehreren Variationen versucht, ausprobiert, der Name ist ihm nicht eigentlich genug, er hat etwas indifferent Unberedtes, und jetzt hat er es, er weiß es, er ist SCHUBSAL, das Mensch gewordene Schicksal, die Schublade des Schicksals, auch hat er lange mit sich gekämpft, um zu verstehen, was ihn wohl antreibt, und kommt immer wieder auf die gleiche Lösung zurück: akute Kastrationsangst, die sich anscheinend schon seit Langem zu einem Kastrationswunsch verhärtet. Während der junge Mann normalerweise lernt, den Hass gegen seinen nicht anwesenden Vater durch selbsterzwungene Feminisierung aufzufangen (indem er seine eigene
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