Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Kirche war das letzte Bauwerk. Es stand am äußersten Rand der Zeit, um den Beginn der Ewigkeit zu bezeugen. Aber in Grönland hatte es einen Jüngsten Tag ohne Erlösung gegeben, die Christen waren verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Zeit ließ ihre Kirchen zerfallen. Nur eine Ruine war geblieben. Das Christentum als Episode. Der ewige Glauben hatte sich als ebenso vergänglich erwiesen wie das irdische Leben.
Grönlands Apostel Hans Egede kam nicht in die eisbedeckte Einöde, um die Eskimos zu christianisieren, sondern um die Nordländer zu finden. Er starb, ohne einen einzigen gesehen zu haben. Die Kontinuität des Glaubens war unwiederbringlich zerbrochen. Fünfhundert Jahre hatten die Nordländer ausgehalten. Dann wurden sie von der Kirche und von ihrem eigenen Land im Stich gelassen. Kein Versorgungsschiff erreichte mehr ihre Küsten, kein Bischof ließ sich mehr auf dem Bischofssitz in Gadar nieder, kein Priester wurde mehr geweiht. Ohne Eisen und anderes Metall hatten sie nicht länger ihre Waffen herstellen können, die ihnen die Überlegenheit über die Eskimos sicherte. Wurden sie selbst zu Barbaren? Verloren sie den Glauben?
Carl dachte wieder an den Altar, der einst in dem geplünderten Kirchenraum auf Hvalsø gestanden hatte. Am Ende war den Nordländern vielleicht nur noch die Altardecke geblieben, die sie an das Abendmahl erinnerte, jetzt, da ihnen kein Messwein und kein Mehl zum Backen der Hostien mehr gebracht wurden. Konnten sie ohne Bischof und ohne Priester überhaupt irgendeinen Sinn in der Messe finden? Hatte sich das jahrhundertelang unterdrückte Wikingerblut in ihnen wieder durchgesetzt? Hatten sie sich dem Ragnarök ergeben und in ihrer wieder entfammten Wildheit die Kirche selbst niedergebrannt? Was hatte sie letztendlich umgebracht? Hunger? Krankheiten? Oder hatten die Eskimos sie schließlich überrannt?
Er sah es vor sich: die brennende Kirche, verteidigt von entkräfteten Nordländern, die kaum noch ihre rostigen Schwerter heben konnten, die Speere der Eskimos, die sich durch löchrige Brünnen bohrten, ein Armageddon ohne Gott.
Er spürte die Hitze des lodernden Kirchendachs auf seinen Wangen. Er hörte den Lärm der klirrenden Waffen und die Rufe der letzten Nordländer, die ihre Verwünschungen zum Himmel schrien, bevor sie auf der Erde niedersanken, die sie ohnehin nicht haben wollte.
Er schreckte zusammen, als eine Hand sich plötzlich auf seine Schulter legte. Jonas stand mit einem Lächeln in den Mundwinkeln vor ihm. Vermutlich glaubte er, dass Carl seinem Beispiel gefolgt und auf der sonnigen warmen Wiese eingeschlafen wäre.
Carl zitterte noch, als er sich auf die Ducht des Ruderboots setzte. Erst die Notwendigkeit, dem Rhythmus der Ruderschläge zu folgen, ließ ihn die Fassung wiedergewinnen.
Er kehrte mit einem leeren Skizzenbuch aus Hvalsø zurück.
Er musste nicht alles malen, was er sah. Auf Grönland lernte er es wieder.
Begonnen hatte es allerdings in Marstal.
C arl hatte geglaubt, dass er dort seinen Platz finden würde.
Die letzten zwölf Jahre seines Lebens, bevor er den Entschluss fasste, noch einmal nach Grönland zu reisen, hatte er mit seiner Familie in Marstal auf Ærø gewohnt. Sein Kardinalfehler als Maler, die Ursache all seines Verdrusses.
Er war auf dieser Insel zur Welt gekommen, in Ærøskøbing.
Sein Vater, der Schneider Johan Arenth Rasmussen, war ein untersetzter Mann von unauffälligem und bescheidenem Äußeren. Direkt unter dem rechten Nasenloch saß eine dunkle Warze, die blutete, wenn er ihr mit dem Rasiermesser zu nahe kam; daher stand um den Auswuchs stets ein Kranz von Barthaaren, die der Schneidermeister mit der Universalschere seiner Frau kurz hielt. Die Warze fiel weder ins Auge noch war sie abstoßend. Dennoch zog sie die Blicke auf sich, denn sie bewies, dass der Schneidermeister trotz seiner gepfegten Erscheinung nicht alles unter Kontrolle hatte. Wie ein winziges Zittern in einer im Übrigen sicheren Hand. Wie ein Spalt, der sich ohne Vorwarnung erweitern und das gesamte Gesicht aufplatzen lassen könnte.
Für einen Maler bedeutete die Warze des Schneidermeisters eine interessante Herausforderung. Sollte er sie in seinem Porträt zeigen oder sollte er sie weglassen? Die Warze stellte keine physiognomische Eigentümlichkeit dar, die es verdient hätte, hervorgehoben zu werden. Warum ihr also einen Platz einräumen, wenn man das Gesicht des Schneidermeisters kartografierte?
Ein Maler hat sich
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