Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
seine Frau, deren umfangreiche Krinolinen allerdings auch platzgreifender waren als die kinderreichste Familie. Johan Arenth Rasmussen lieferte den Eheleuten Hinrichsen die Kleider; allerdings handelte es sich von Hinrichsens Seite um reine Güte, dass er sein standesgemäßes Auftreten einem örtlichen Schneider überließ. Er bewegte sich in der Hauptstadt ebenso souverän wie in den Handelsstädten Hamburg und Altona. Bis nach London kam er auf seinen häufigen Geschäftsreisen. Er kaufte bei Liberty in der Regency Street, und es kam vor, dass er mit einem Seidenschal nach Ærøskøbing zurückkam, in dem »Made in France« auf einem gestickten Etikett stand.
»Fühlen Sie«, sagte er aufgeräumt zu Rasmussen, »solch eine Qualität lässt sich in unserem kleinen Dänemark gar nicht auftreiben.«
Rasmussen befühlte den Stoff fachmännisch und nickte bestätigend, während sich ihm der Magen zusammenzog.
»Jetzt ist es vorbei«, dachte er, »jetzt hat er einen anderen Lieferanten gefunden. Er teilt es mir lediglich auf eine freundliche Weise mit.«
Doch Hinrichsen bestellte immer wieder bei Rasmussen. Und für Rasmussen war er nicht nur ein Kunde, er war ein Gönner, ja, eine Quelle der Inspiration. Mit niemandem sonst konnte er derartige Diskussionen über die neue Mode führen. Gehrock oder ein Jackett mit kurzen Schößen? Londoner Rauchfarben, algiergrau oder russischgrün?
Hinrichsen verkehrte in allen Gesellschaftsschichten. Er galt als Wohltäter der ganzen Stadt. Sein Name stand in jeder Buchführung, in den Kontrabüchern, auf Kaufverträgen, Wechseln und Pfandbriefen. Was hätte aus den Schiffsreedern Brandt und Schaarup werden sollen, zwei der vornehmsten Familien der Stadt, als ihre Spekulationen auf dem launischen Kornmarkt fehlschlugen und sich ihre Lagerhäuser mit unverkäufichem Weizen füllten, wenn Hinrichsen nicht eine helfende Hand ausgestreckt hätte? Im Hotel Harmonien trank er bayerisches Bier mit den Skippern Birkholm und Brandt, Errboe und Kock und mit den vier Brüdern Erichsen. Mit allen machte er Geschäfte wie unter Seeleuten. Außerdem gehörte ihm ein Schiff, sogar das größte der Stadt, die Brigg Kronprinds Frederik.
Wenn die Brüder Bing von der Firma Gebrüder Bing aus Hamburg einen offiziellen Besuch abstatteten und Hinrichsens Kandelaber aus den Fenstern des ersten Stocks ihren Schein über das holprige Pfaster der Brogade warfen, wurden nicht Gänsesuppe und Sauerbraten serviert, die üblichen Sonntagsgerichte in Ærøskøbing. Cailles en Sarcophage stand auf den handkolorierten Menükarten, die an jedem Gedeck lagen. Die große weite Welt landete auf den Tellern, und sie stand auch auf der Bühne, wenn die Ny Teaterselskab aus Odense auf Einladung Hinrichsens eine Doppelvorstellung von Der Mulatte und Das Maurenmädchen gab, zwei Stücke, die der hochberühmte Hans Christian Andersen geschrieben hatte.
Hinrichsen hatte die eigentümliche Angewohnheit, ständig mit einem Auge zu zwinkern. Wer ihn nicht kannte, mochte glauben, dass es sich um ein nervöses Zucken handelte, das unangekündigt ein Augenlid schloss; denn Hinrichsen zwinkerte in Momenten, in denen man es keineswegs erwartete. Er konnte am Beginn eines Gesprächs zwinkern, aber er zwinkerte auch zum Abschied. Er zwinkerte, wenn er schwierige Verhandlungen zu einem Abschluss gebracht hatte, bisweilen aber auch mittendrin. Manchmal zwinkerte er, wenn er jemanden um einen Gefallen bat, aber auch, wenn er selbst darum gebeten wurde – was weit häufiger vorkam. Aber niemand, dem Hinrichsen je zugezwinkert hatte, zweifelte an dessen Absicht. Mit seinem Zwinkern knüpfte Hinrichsen ein Band der Vertraulichkeit. Er lud ein zu einer innigen Freundschaft. Man wurde zu einem Teil seines engeren Kreises, und egal, wie groß dieser Kreis auch sein mochte, ja, es kam vor, dass er die ganze Welt zu umfassen schien, so befand man sich dadurch doch an einem privilegierten Ort.
Selbst der fünfzehnjährige Carl kam mit Hinrichsen in Kontakt. Auch ihm wurde eines Tages zugezwinkert. Es war ebenso unvermeidlich wie die hoch am Nachmittagshimmel über Ærøskøbing stehende Sonne, die ohne Standesunterschiede auf alle herunterschien, die in den Straßen verkehrten. Hinrichsens Blick fiel auf Carl, als der in dessen Entree stand, um ein Päckchen des Vaters abzuliefern. Eigentlich war es Aufgabe des Dienstmädchens, die Lieferung anzunehmen. In diesem Moment kam Hinrichsen polternd aus der ersten Etage, und als er den Sohn des
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