Rasputins Erbe
sauer, dass ihre Theorie eventuell nutzlos war. Bevor sie jedoch wieder losschnauzen konnte, meldete sich die junge Frau kleinlaut zu Wort: „Entschuldigung, aber es ließ sich kaum vermeiden, mitzuhören. Ich habe Ihre Wunde gesehen und ich war mal in einer ähnlichen Situation. Wenn Sie mich fragen, sollten Sie einen großen Bogen um den Mann machen. Hier, trinken Sie das!“
Sie reichte Julia ein Glas, das nur zwei Fingerbreit mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war. „Das ist unser bester Gin. Schmeckt scheußlich, aber viele unserer Kunden stehen darauf“, erklärte die Verkäuferin und sah befriedigt, dass Julia den Schnaps bereits mit einem gierigen Schluck trank.
Innerhalb weniger Sekunden kehrte die Farbe in Julias Gesicht zurück und sie lächelte matt. „Dankeschön“, sagte sie an die Verkäuferin gewandt, die nun wieder in den vorderen Bereich des Ladens zurückkehrte.
Sie sprach weiter und wirkte einigermaßen erleichtert: „Vielleicht habt ihr ja recht. Gestern war ich mir sicher, dass es Alexej war. Heute war ich mir sicher, dass es Annabelle war. Jetzt bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher.“
Verena nickte bedächtig. Sie war nun ihrerseits nicht mehr von ihrer eigenen Theorie überzeugt. Es hätte ebenso gut Annabelle sein können, dachte sie. Aber alle Indizien sprachen dafür, dass es Alexej war.
Schließlich antwortete sie kryptisch: „Ja, vielleicht.“
Julia bemerkte das nicht und entschloss sich dazu, das Beste aus dem Besuch in dem Laden zu machen. Jetzt, da die Verkäuferin sich doch noch als freundlich herausgestellt hatte, war ihr nach einen Frustkauf.
Sie hielt sich das Kleid vorsichtig an den Körper, um es nicht mit Eiter aus ihrer Brandwunde zu besudeln. Julia lächelte tapfer, als sie sich im Spiegel betrachtete und fragte: „Wie findest du das? Würdest du das anziehen? Ich meine, wenn du wieder dein normales Gewicht hast?“
Verena antwortete nicht sofort, denn sie dachte immer noch über das Dilemma nach. Sie beschloss, der Sache später auf den Grund zu gehen und ließ sich auf Julias Verdrängungstaktik ein.
„Also, abgesehen von dem Loch in deinem Bauch steht es dir wunderbar! Aber meinst du, dass ich das tragen kann?“
Julia verdrehte die Augen: „Natürlich kannst du das tragen. Ich will wissen, ob du es haben möchtest!“
Verena guckte verdattert und Julia lachte. Sie sah leicht irre aus, so wie sie da halbnackt in der Umkleide stand, mit einem Designerkleid in der Hand, einer klaffenden Wunde am Bauch, knallroten Augen, leicht zerzausten Haaren und einem intensiven Grinsen im Gesicht.
Julia zog ungeduldig die Augenbrauen hoch. „Und?“, fragte sie. Bevor Verena antworten konnte, mischte sich erneut die Verkäuferin ein, die sich bereits wieder angeschlichen hatte.
„Und? Möchten Sie noch einen Gin? Für den Kreislauf, meine ich. Oder kann ich sonst noch etwas für Sie tun? “, fragte sie freundlich und ignorierte sowohl die immer noch blinkende Nikolausmütze auf Verenas Kopf als auch Julias gesamte Erscheinung, die so überhaupt nicht in den Laden passte.
„Ja, allerdings“, grinste Julia und reichte der Verkäuferin das Kleid durch den Vorhang hindurch an. „Einpacken, bitte. Wir nehmen es“, erklärte sie mit fester Stimme.
Die junge Frau ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken und überlegte, ob der Spontankauf mit dem Alkohol zu tun hatte und ob sie in Zukunft häufiger versuchen sollte, die Kunden mit einem Gläschen Gin weichzuklopfen.
Als sie gegangen war, zog sich Julia wieder an und ignorierte ihre Wunde einfach. Verena beäugte sie skeptisch. Sie wusste, dass ihre beste Freundin wieder einmal so tat, als wäre alles in bester Ordnung.
In Wirklichkeit hatte das Gespräch nichts gebracht, überlegte sie. Es war immer noch nicht klar, ob Alexej sie gebrandmarkt hatte oder nicht.
Verena ahnte, dass die ganze Geschichte noch ein unangenehmes Nachspiel haben würde. Sie hoffte jedoch, dass sie sich irrte.
Kapitel 17 – Auf eigene Faust
Verena wachte beim ersten Klingeln des Weckers auf. Sie hatte sich am Vorabend einen Plan gemacht, um mehr über Julias verhängnisvolles Erlebnis in Alexejs Keller herauszufinden.
Matthias schnarchte. Verena wälzte sich so leise wie möglich aus dem großen Bett und schlich sich ins Bad. Es war bereits nach neun Uhr, aber Matthias hatte endlich Urlaub und Verena gönnte ihm den Schlaf. Mittlerweile war sie froh, dass Matthias im Laufe der letzten Monate so viele Überstunden
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