Rasputins Erbe
vernehmlich.
Verena riss den Vorhang abrupt beiseite und blaffte die Frau aus heiterem Himmel an: „Sehen Sie nicht, was hier los ist?“ Und dann, nach einer winzigen Pause: „Ach, jetzt stellen Sie sich doch nicht so an. Kein Schwein ist in diesem bescheuerten Laden und wenn ich ehrlich bin, kann ich mir auch gut vorstellen, warum.“
Ihre Augen blitzten wütend und die junge Verkäuferin verstand. Sie wusste keine passende Antwort und drehte auf dem Absatz wieder um.
Es waren jedoch nicht Verenas harte Worte, die sie dazu bewegten, sich aus der Sache rauszuhalten, sondern die auffällige Wunde am Bauch der heulenden Kundin. Sie beschloss, die beiden in Ruhe zu lassen und weiter darauf zu hoffen, dass niemand sonst in den Laden kommen würde.
Verena zog den Vorhang wieder zu und kramte in ihrer Jacke nach einem Taschentuch. Julias Augen waren rot und die Lider geschwollen. Sie saß fast nackt auf einem wunderbar gearbeiteten Mahagoni-Schemel, der für die betuchten Kunden als Sitzgelegenheit während der Ankleide gedacht war.
Julias Wunde pochte. Als die erste und auch die zweite Tränenflut überstanden war, wurde ihr Schluchzen leiser. Verena strich ihr unermüdlich über den Kopf und hielt ihre Hand. Sie lächelte und versuchte Julias Blick aufzufangen, um auch sie zum Lächeln zu bringen.
Aber das klappte noch nicht. Julia war zu aufgewühlt, der Druck zu groß.
Völlig unerwartet begann sie zu sprechen: „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.“
Verena wusste nicht, was sie meinte, denn sie hatte für die Vorstellung in Julias Kopfkino keine Eintrittskarte gelöst. „Wie meinst du das?“, fragte sie deshalb.
„Gestern. Im Keller. Da war ein Luftzug, weißt du?“, erwiderte Julia und schluchzte nochmals laut auf.
Verena wartete, bis Julia sich wieder beruhigte. „Ein Luftzug?“, fragte sie weiter.
„Ja, ein Luftzug. Ich habe dir ja erzählt, dass es im Keller kühl war. Aber kurz bevor Alexej mich ge-ge-gebrandmarkt hat – da war ein Luftzug. Es war plötzlich kälter als vorher. Als hätte jemand eine Tür offen stehen gelassen“, erzählte Julia zitternd.
Verena unterbrach sie nicht, sondern wartete einfach ab, dass Julia weitersprach.
„Ich meine, es klingt total verrückt, aber vielleicht hat Alexej ja die Wahrheit gesagt“, sagte Julia und ihre verquollenen Augen schauten ins Leere.
Verena runzelte die Stirn. Sie verstand nicht.
„Was meinst du? Du hast gar nicht erzählt, dass Alexej überhaupt etwas gesagt hat!“, sagte Verena leise und war gespannt, was Julia nun berichten würde.
„Er-er hat gesagt, er sei es nicht gewesen. Er-er meinte, jemand hätte ihn auf der Treppe niedergeschlagen, als er nach dem Rechten sehen wollte. Du weißt schon, als wir das komische Geräusch gehört hatten“, erklärte Julia und schaute zu Verena auf.
Diese guckte skeptisch und war offensichtlich damit überfordert, Julia möglichst schonend ihre Meinung mitzuteilen.
„Jetzt guck nicht so! Ich weiß, wie bescheuert sich das anhört. Aber mir ist dieser Luftzug wieder eingefallen und das fand ich gestern im Keller schon so komisch.“
Verena versuchte Julia zu beschwichtigen: „Ich glaube nicht, dass du verrückt bist oder so. Aber meinst du nicht, dass es sein könnte, dass, äh, dein Unterbewusstsein dir so etwas einredet? Weil du dich in Alexej verliebt hast und er sich wie ein Arschloch verhalten hat?“
Julia schwieg und putzte sich trompetend die Nase. Dann fuhr sie fort: „Gestern war ich ja auch sicher, dass es so passiert ist. Aber heute morgen habe ich bereits daran gezweifelt. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig wäre.“
„Julia, du kennst den Typen doch kaum! Du hast dich in ihn verknallt. Aber weißt du wirklich, was in seinem Kopf vorgeht? Die ganzen Geschichten, die du mir erzählt hast. Es sieht wirklich nicht gut aus, findest du nicht auch?“
Verena hoffte, dass Julia ihr zustimmen würde. Sie dachte, dass es nicht gut für sie wäre, wenn sie niemandem die Schuld für ihre beschissene Situation geben könnte. Aber Julia war in solchen Dingen komplizierter als Verena.
„Weißt du, was auch komisch ist?“, fragte Julia und ihre Schultern strafften sich bereits wieder ein wenig. „Ich habe Alexej noch nie dabei gesehen, wie er raucht. Und gerochen habe ich an ihm auch noch nichts. Im Keller habe ich zum ersten Mal Kippenqualm wahrgenommen.“
Verena war noch lange nicht überzeugt: „Julia, wer weiß, wie der Typ
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