Rasputins Tochter
nach dem anderen seit neun Uhr morgens.
Aus meinem Zimmer zu treten, war wie einen Basar zu betreten. Kein Wunder, dachte ich. Es war Samstag und Samstage waren immer Papas geschäftigsten Tage. Heute, der sechzehnte Dezember, würde nicht anders sein. Frauen jeden Alters und jeder Mode summten durch unsere Wohnung, einige von ihnen alt und in Schwarz gekleidet, andere jung mit üppigen Kurven, einige mit Pariser Rouge geschminkt, und andere blass und unscheinbar. Unser Esszimmertisch war heute mit Geschenken bestreut - Pralinen und Blumen, Früchte und Nüsse - während der Samowar vor einer beinahe ununterbrochenen Linie von Bittstellern auf der Suche nach dem Gegengift des Winters, Tee. Das Telefon schien ununterbrochen zu läuten.
Als ich in den Waschraum zu meiner Morgentoilette ging, bemerkte ich sofort ein Gefühl der Nervosität, der Verzweiflung.
„In der Duma gibt es Gerede von nichts als rewolutsija “, sagte eine Frau ruhig, die auf dem Flur stand und einen Keks aß und Tee schlückchenweise trank.
Ihre Freundin drückte sich eng an sie und murmelte: „Einfach schrecklich … Hörtest du, was Maklakow, der Duma-Abgeordnete in der ganzen Stadt gesagt hat? Er sagt, es wird keine politische rewolutsija, sondern eine der Wut und Rache der ignoranten Massen sein! Er schreit ständig: ‚Nehmt euch in Acht vor dem Bauern mit der Axt!‘“
„ Bozhe moi !“, keuchte die Erste, bekreuzigte sich mit dem Keks in der Hand.
Verängstigt eilte ich an den beiden Frauen vorbei. Sobald ich mich gewaschen und mein Haar gebürstet hatte, blickte ich in den Salon und suchte meinen Vater. Und dort war er, er stand vor einer sehr schicklichen Dame mit einer Federboa und einer andern Frau in einer abgetragenen Strickjacke, die Erste hielt seine rechte Hand, die Zweite küsste seine Linke. Warum, konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, waren diese Frauen - nicht nur diese zwei, sondern sie alle heute hier - so gewillt, so begierig waren, die Kontrolle aufzugeben und sich meinem Vater zu unterwerfen? Waren sie so bedürftig, so verängstigt, so verzweifelt? Andererseits schien Papa, seine Augen auf nichts und niemandem ruhend, nichts von der Aufmerksamkeit zu bemerken. Er sah schrecklich aus, sein Haar zerzauster als je zuvor, seine Bluse zerknittert und die Schärpe um seine Taille locker und herabhängend. Als Papa mich erblickte, zog er sich von den beiden Frauen fort und ging durch den Salon. Niemals hatte ich so dunkle Ringe unter seinen Augen gesehen.
„Hallo, meine kleine Biene“, sagte Papa leise und küsste mich auf die Stirn. „Hast du gut geruht?“
Meine Augen abwendend, nickte ich. Hatte er eine Ahnung, dass ich ihn im Bett mit Dunja entdeckte? Besser noch, vermutete er sogar, dass ich mich letzte Nacht hinausgeschlichen hatte? Erstaunlicherweise war die Antwort, wusste ich, auf beides nein.
„Papa, ich mache mir Sorgen.“
Er zuckte die Achseln und sah an mir vorbei. „Der Glaube ist verloren worden.“
„Aber die Leute sagen die schlimmsten Dinge. Leute, die direkt hier in unserer Wohnung reden, und … und …“
„Du denkst, ich weiß nicht, dass es bald zu einem Ende kommen wird? Es gibt überall Feinde - ja, sogar hier innerhalb unseres Zuhauses.“
Seine Passivität schockierte mich. Niemals hatte ich meinen Vater so demoralisiert gehört oder gesehen. Hatte er während der Nacht eine Vision gehabt, oder war er mit dem gesunden Hausverstand von Angesicht zu Angesicht gekommen? Dann wieder war er jenseits des Randes der Erschöpfung?
Ganz gleich wie mein Ärger und meine Enttäuschung in ihm waren, wusste ich zumindest, dass ich ihn warnen musste, daher sagte ich: „Erinnerst du dich an Elene Borisowna, die eine, deren Enkelsohn du heiltest?“
„Sicherlich.“
„Also, sie sagte -“
Er drückte den langen harten Zeigefinger seiner rechten Hand an meine Lippen. „Pst, meine süße kleine Biene. Ich höre und folge den Worten Gottes und niemandem sonst.“
„Aber -“
Wieder küsste er mich auf die Stirn. „Geh und iss eine Schüssel dampfend heiße Kascha - vergiss nicht die knusprigen Zwiebeln! - und dann etwas Fisch. Reinige deine Seele vor Sorgen. Iss und bereite dich dann vor auszugehen. Du und deine Schwester müsst heute Nachmittag eure Cousine Anna treffen.“
„Aber Papa, ich …“
Er ging davon mit aller Autorität eines Zaren, der gerade das gebieterische bit-po-semo - so sei es - gemurmelt hatte. Für einen Augenblick war ich versucht, hinter ihm herzurennen
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