Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
es satt hat, Touristen in seinem kleinen Hotel zu bedienen.
Weil er zu schlau ist, um mit 42 bei Daiquiris zu verblöden. Außerdem hat – und
das behältst du bitte für dich, verstanden? – seine Freundin was mit einem anderen
gehabt. Martin hat die beiden sogar erwischt.«
Bereits
in diesem Augenblick bereute Werner Hartleib die Worte, die ihm unbedacht entwichen
waren. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Also versuchte er, das Beste aus der Situation
zu machen und fügte erklärend hinzu: »Motor vom Boot kaputt, Tour musste ausfallen,
ist früher nach Hause gekommen – ganz klassisch.« Hartleib nickte in Gedanken. »Ich
schätze, er lässt alles liegen und stehen und ist froh, mal wieder ordentliches
Hamburger Schietwetter zu schnuppern. Immer nur Sonne ist doch auch blöd, oder?«
Schöller
konnte die Ironie kaum ertragen und verzog das Gesicht. »Ja, klar, total blöd. Und
Seehunde gibt es hier auch, oder wie?«
»Genau.«
Hartleib
verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich. Er sah Schöller am Fenster stehen
und sich auf einem Fingernagel herumbeißen. Der Geruch in dem Raum erschien ihm,
der sich seit 22 Stunden zu den militanten Nichtrauchern zählte, unerträglich, und
er wollte nicht die ganze Abteilung mit den wabernden Überresten der Fortuna, der
Glücklichen, verseuchen. Warum sich die Spanier ausgerechnet die Glücks- und Schicksalsgöttin
der römischen Mythologie für ihre Zigarettenmarke ausgeliehen hatten, war Hartleib
schleierhaft. Es würde vermutlich keinen tieferen Sinn haben, außer dass Schöller
in diesem Moment in Entbehrung seiner Zigaretten alles andere als glücklich war.
Hamburg, 1. November 2010
Der Flughafen Fuhlsbüttel lag, zum
Leidwesen aller Anwohner, denen die landenden Flieger zum Greifen nahe waren, noch
innerhalb von Hamburgs Toren, und alle, die in den Süden oder Norden flüchten wollten,
kamen nicht umhin, von hier abheben zu müssen. Doch jetzt im November lag eine eigenartig
gespenstische Stille über dem sonst hoffnungslos überfüllten Ort. Ausgerechnet in
diesem Monat, in dem, gemäß einer Umfrage unter Hamburger Bürgern, die trübsinnigsten
Tage des Jahres lagen, waren die Hallen für Abflug und Ankunft seltsam verlassen.
Eine Putzkolonne
schob ihre Reinigungsgeräte in symmetrischen Bahnen über die Fliesen. Jene, die
diese Geräte mit Unmut bedienten, dachten mit Wehmut an das eine oder andere auf
den Monitoren aufleuchtende Reiseziel. Außerhalb der Ankunftshalle waberte eine
trübe, dunkelgraue Masse über eingezogenen Köpfen, und im Unterbewusstsein befürchtete
man, sie könne einfach hinunterfallen. Taxifahrer lasen ihre Bild-Zeitung zum dritten
Mal und rechneten damit, am Monatsende rote Zahlen auf ihren Konten vorzufinden.
Die startenden Flieger über ihnen brauchten geraume Zeit, bis die Sonne das Cockpit
wieder erhellte. Der Monat mit der höchsten Selbstmordrate des Jahres.
Kriminalhauptkommissar
Conrad Lorenz und Oberkommissar Werner Hartleib reckten die weißen Hälse und hielten
innerhalb derer, die wie sie auf Bekannte oder Verwandte warteten, Ausschau nach
einem Mann, den sie seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen hatten. Die Geschichte
von Martin Pohlmann war im Kollegenkreis schnell erzählt, sofern man sich an die
Fakten hielt und sich nicht um wuchernde Gerüchte scherte, die das Wesentliche umrankten:
Verlobte bei einem Autounfall ums Leben gekommen, Burn-out, Nase voll vom Job, Ärger
mit dem Vater, vorzeitig ausbezahltes Erbe und Abflug ins Nirwana. Nette Frau kennengelernt,
kleines Hotel gepachtet, Müßiggang und täglicher Sex bis in alle Ewigkeit. Es gab
da auch eine kleine, nette Homepage von einem Hotel an der Küste Ecuadors mit Bildern,
die einen sofort die Koffer packen ließen, doch ein Foto vom Besitzer fehlte. Nur
eine lächelnde Ecuadorianerin mit einem Tablett in den Händen, beladen mit exotischen
Cocktails, posierte für die Kamera. Ob diese Frau jene war, welche mit ihm? Täglich?
Man scrollte vergeblich nach weiteren diesbezüglichen Hinweisen und war nicht überrascht,
dass man ernsthaft darüber nachdachte, ob man Martins Beispiel folgen sollte oder
nicht. In der Regel klappte man resigniert den Laptop wieder zu und blieb in der
Komfortzone stecken, in der man sich arrangiert hatte.
Lorenz und
Hartleib rechneten mit einem glücklich aussehenden Mann Ende 42, braun gebrannt
und so erholt, dass man es kaum aushalten konnte.
Dann sahen
sie ihn aus der Menge der Ankommenden hervorstechen.
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